© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/11 / 26. August 2011

Der deutsche Weckruf
Vor einem Jahr löste Thilo Sarrazin mit seinem Buch eine Großdebatte über die Zukunft unseres Volkes aus
Thorsten Hinz

Mehr politische Wirkung als Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ kann kein Sachbuch erzielen. In nur einem Jahr ist es durch Millionen Hände gegangen und hat sein Publikum elektrisiert. Zu den Lesern gehören auch Mitglieder derjenigen Parteien, welche die Politik zu verantworten haben, die das Buch geißelt. Die Zustimmung, die Sarrazin an der Parteienbasis fand, war so überwältigend, daß sein Ausschluß aus der SPD abgeblasen werden mußte. Der Buchtitel erfaßt den ganzen Ernst der Situation und ist gerade deswegen zur populären Formel geworden. Das alles bedeutet eine Niederlage und einen Legitimationsverlust der Politiker, Medienarbeiter und Lobbyisten, die Sarrazins Durchmarsch verhindern wollten. Sie rächen sich mit fortgesetzter Giftigkeit, nennen den Autor „umstritten“ oder „populistisch“, was sie erst recht als konformistische Wichte dastehen läßt!

Doch auch unter den Anhängern wird Widerspruch laut: Nicht einmal die politische Terminologie habe das Buch verändert, geschweige denn die praktische Politik. Der Abstimmung mit dem Kassen- sei kein Plebiszit mit dem Wahlzettel gefolgt, Sarrazin hätte sich in die Arena des Parteienkampfes begeben müssen. Wer so redet, verkennt die Aufgaben eines Buchautors.

Die französischen Aufklärer haben entgegen allen Legenden keineswegs die Revolution von 1789 ausgelöst, und der Roman „Onkel Toms Hütte“ der braven Harriet Beecher Stowe hat nicht die Abschaffung der Sklaverei in Amerika bewirkt. Dafür waren noch ganz andere Anschübe, Energien und Eruptionen nötig. Die Schriften nahmen aber dem königlichen Absolutismus seinen göttlichen Nimbus und der Sklaverei den letzten Anschein moralischer Legitimation. Sie unterminierten einen öffentlichen Konsens und machten Alternativen denkbar. Das tut nach wie vor auch Sarrazins Buch!

Es thematisiert das Offensichtliche und Unbestreitbare, das die Bürger im Alltag erfahren, das von Politik und Medien jedoch bestritten und übermalt wird: Erstens die Tragödie, in die der praktizierte Multikulturalismus Deutschland führt. Zweitens die kulturellen Voraussetzungen, auf die die politische, zivilisatorische und ökonomische Entwicklung eines Landes aufbaut. Drittens die partielle Erblichkeit von Intelligenz.

Außer unvermeidlichen Detailfehlern ließen sich dem Autor keine grundsätzlichen Irrtümer oder Kurzschlüsse nachweisen. Also greifen Sarrazins Kritiker zum vergifteten Argument, sein Buch verletze den Konsens der „westlichen Werte“. Das ist ein Totschlagargument, das auf eine gesellschaftliche Generalprävention abzielt. Genauso hatte die SED-Führung mit den Zaunpfählen ihrer „wissenschaftlichen Weltanschauung“ und der „Gesetzmäßigkeiten der Geschichte“ gefuchtelt, um Diskussionen, die ihr potentiell gefährlich werden konnten, im Keim als „staatsfeindlich“ zu ersticken. Das Sarrazin-Buch hat in der Bundesrepublik eine vergleichbare Wirkung wie die Veröffentlichung der Schlußakte von Helsinki 1975 in der DDR. Die SED hatte damals Artikeln zustimmen müssen, die wenigstens in vager Form die Rechte des einzelnen gegenüber dem Staat betonten. Die Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte, die in der realsozialistischen Ideologie und Praxis nicht vorgesehen waren – Reise-, Informations-, Meinungs- und Redefreiheit – und die vom Staat auf Einflüsterungen des Klassenfeindes oder auf reaktionäres Bewußtsein zurückgeführt wurden, waren damit erstmals in einem offiziellen Dokument anerkannt. Unmittelbar änderte das nichts an den Machtverhältnissen, aber es stärkte das dissidente Selbstbewußtsein und bot eine Grundlage, auf der man – mit der gebotenen Vorsicht natürlich – argumentieren und Forderungen stellen konnte. Das wiederum führte zur Verunsicherung und Demoralisierung der Funktionsträger und trug dazu bei, daß die DDR zum Schluß so wenige aktive Verteidiger fand.

Das Sarrazin-Buch mußte der Bundesrepublik nicht von außen aufgezwungen werden, sondern es entstand in einer der vielen freiheitlichen Nischen, die es nach wie vor gibt. Das ist der Unterschied zur DDR. Die Analogie besteht darin, daß dem „Populisten“, „Rechtsextremisten“ und „Ausländerfeind“ heute die Rolle zugewiesen ist, die dort damals der „Klassenfeind“ innehatte. Da die Medien aber – ein weiterer Unterschied – auf eine gewisse Plausibilität und die Empfindlichkeiten des Publikums achten müssen, konnten sie Sarrazin nicht einfach als Neonazi und Fremdenhasser abservieren. Sein Buch ist zum objektiven Dokument avanciert, an dem die Bürger, die von Politik und Medien verraten wurden, deren multikulturelle Halluzinationen messen.

Unter funktionalem Gesichtspunkt hat der Multikulturalismus sich als ideologischer Überbau der deregulierten Finanzmärkte und Ökonomie erwiesen. Seine Krise, die Thilo Sarrazin mit der Akribie des Statistikers nachgewiesen hat, ist Bestandteil der viel größeren Krise, die das aktuelle Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftsmodell in Frage stellt. Die hohe Verschuldung und die Aussicht auf Staatsbankrotte schmälert nun die Möglichkeiten der Politik, die importierten Kultur- und Religionskonflikte sozial zu befrieden.

Konsequenterweise verschärfen seine Nutznießer jetzt den Ton. Vor dem Hintergrund der Londoner Krawalle fordern sie, statt die muslimischen Jugendlichen in Deutschland zu „dämonisieren“, müsse der Staat „das wirklich unnormale, ja perverse, rechtsnationale Gedankengut als den wirklichen Feind erkennen und bekämpfen“ (Zeit). Die schrillen Töne verraten neben nackter Furcht die Bereitschaft, sich zum Zweck sozialer Selbstbehauptung gegen den Selbsterhalt des eigenen Volkes nötigenfalls mit einem Mob zu verbünden. Der Konflikt, den Sarrazin nicht verursacht hat, der sich an ihm aber entzündete, ist nicht ausgestanden. Er hat sogar eine neue Dimension erreicht.

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