© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/11 / 02. September 2011

„Die glauben, ich hätte ihr was angetan“
Kindesentzug: Wie Stephanie T. nur mit größter Mühe ihre Tochter zurückbekam
Hinrich Rohbohm

Stephanie T. (Name geändert) hat es geschafft. Vier Monate hatte sie um ihre heute acht Monate alte Tochter Lena kämpfen müssen. Vier Monate voller Zweifel und Ungewißheit. Darüber, ob sie ihr Kind wieder zurückbekommen kann. Jenes Kind, daß ihr das Jugendamt am 6. April dieses Jahres genommen hatte. „Inobhutnahme“ heißt die Maßnahme im Amtsdeutsch, dessen Rechtsgrundlage sich im Sozialgesetzbuches (SGB) niederschlägt. Gemeint ist, daß der Staat Eltern ihr Kind wegnehmen kann, sofern eine Notsituation vorliegt und die Maßnahme dem Wohl des Kindes dient. Schon der Verdacht reicht oft aus. Und damit beginnen für Eltern die Probleme. So wie bei Stephanie T.

Die 30jährige aus der hessischen Kleinstadt Friedberg bringt am 19. Dezember vorigen Jahres ihre dritte Tochter zur Welt. Lena. Kind und Mutter geht es gut. Bis Ende März. Da bekommt Lena plötzlich Fieber, erbricht. Im Genitalbereich treten Rötungen auf der Haut auf, die sich später in blaue Flecke verwandeln. T. geht mit ihrer Tochter zum Kinderarzt, der sie in das Stadtkrankenhaus von Hanau überweist. Es sollte der Beginn eines vier Monate währenden Kampfes einer Mutter um ihre Tochter werden. Ein Kampf, der mit Gutachten und Strafanzeigen geführt wird. Denn die Fachärztin für Kinderheilkunde verweigert der Mutter plötzlich, bei ihrer Tochter zu bleiben. Am 6. April der Schock: Das Jugendamt entzieht T. Aufenthaltsbestimmungsrecht und Gesundheitsfürsorge. Begründung: Verdacht auf Kindesmißhandlung. Druckstellen im Genitalbereich wurden festgestellt. Lena kommt in eine Pflegefamilie.

„Die glauben, ich hätte ihr was angetan, aber da liegen sie falsch“, versichert die Mutter. Lena habe allergisch auf eine Impfung reagiert, ist sie überzeugt. Eine der JUNGEN FREIHEIT vorliegende medizinisch-wissenschaftliche Stellungnahme vom 20. Juni dieses Jahres untermauert den Verdacht der Mutter. Und einer ärztlichen Blutuntersuchung vom 22. Juni zufolge lasse sich eine Gewalteinwirkung medizinisch nicht feststellen. Das Jugendamt lehnte eine Rückführung des Kindes dennoch ab. Bei einem solchen Verdacht hätten sie handeln müssen, die Anordnung sei nicht leichtfertig erfolgt, heißt es dort.

Stephanie T., selbst früher im Pflegedienst tätig, wehrt sich. Sie schaltet Anwälte ein, stellt Strafanzeigen gegen Jugendamt und Fachärztin, wendet sich an Landrat, Bürgermeister und Polizei. „Keiner von denen ist tätig geworden“, beklagt T. Ihre Anwältin schreibt am 27. Juni dem Jugendamt, bittet aufgrund der medizinischen Erkenntnisse um einen Besprechungstermin zwecks Rückführung des Kindes zur Mutter. Das Jugendamt antwortet nicht. Eine Thematisierung der medizinisch-wissentschaftlichen Stellungnahme als auch Gespräche über eine Umgangsregelung mit Rückführungsperspektive würden ohne Begründung abgelehnt, moniert die Anwältin in einem Schreiben an den Kreisausschuß des Wetteraukreises. Zudem sei der Anwältin auch der Umgangskontakt mit Lena verwehrt worden. Die strikte Verweigerungshaltung des Jugendamtes zur Zusammenarbeit und Kommunikation lasse nur den Schluß zu, daß Lena ihren Eltern vorenthalten werden solle, folgert die Verteidigerin. Erst am 22. Juli teilt das Amtsgericht Büdingen schließlich mit: „Der Verdacht der Kindesmißhandlung hat sich nicht bestätigt.“ Am 12. August erhält Stephanie T. das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitsfürsorge für ihre Tochter zurück.

Fälle wie der von Stephanie T. sind keine Seltenheit (JF 5/11). In den letzten Jahren hat der Kindesentzug durch den Staat stark zugenommen. Allein 2009 wurden in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 33.700 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Gegenüber dem Jahr 2004 eine Steigerung von 30 Prozent. Sie landen zumeist in Pflegefamilien oder Kinderheimen.

Nicht wenige dieser Inobhutnahmen erfolgen unter fragwürdigen Umständen. So auch bei Stephanie T., die jedoch noch Glück hatte, wie sie sagt. „Lena bekam eine sehr gute Pflegemutter“, betont sie. Genau das sei jedoch oftmals nicht der Fall. Selbst Kinderheimleiter sprechen von häufigen sexuellen Mißbrauchsfällen. Nicht wenige der im Heim untergebrachten Mädchen würden aufgrund von Mißbrauch und entstandener emotionaler Kälte Drogenkonsum und Prostitution verfallen.

Vor dem Landgericht Oldenburg muß sich derzeit Andreas Sch. verantworten. Das Jugendamt hatte dem 47jährigen und dessen Ehefrau ein damals sechs Jahre altes Mädchen zur Obhut übergeben. Den leiblichen Eltern entzogen, sollte dem Kind eine bessere Zukunft ermöglicht werden. Doch der Pflegevater mißbrauchte das Mädchen zwischen Oktober 2003 und Mai 2010 mehr als hundertmal. Vor Gericht verweigert der in Untersuchungshaft sitzende Mann die Aussage. Das Mädchen wurde nun einer neuen Pflegefamilie zugeführt.

„Die Adoption eines Kindes ist oft schwierig, ein Pflegekind anvertraut zu bekommen dagegen erheblich leichter“, erzählt Stephanie T. Mit ihrer Vermutung, daß Pflegekinder ein sich lohnendes Geschäftsmodell seien, steht sie nicht allein da. „Bei einem Pflegekind kommt der Steuerzahler praktisch für sämtliche Kosten auf, leibliche Eltern sind klar benachteiligt“, meint sie.

Im Jahr 2004 geriet das Ehepaar Backhaus, das die so genannte „Kinder- und Jugendhilfe Backhaus (KJHB)“ in Meppen betreibt, in die Schlagzeilen. Sie beschäftigt 150 sogenannter Profi-Eltern, die ihren leiblichen Eltern entzogene Kinder betreuen. Zudem unterhält sie sieben pädagogische Zentren, in denen Ersatzeltern ausgebildet werden. Hierfür erhält das Unternehmen von den Jugendämtern knapp 3.000 Euro für die Pflegefamilien. Rund 900 Euro dagegen streicht die Firma für ihre Vermittlerdienste selbst ein. Sie stellt Gutachter, bereitet in einer „Clearingstelle“ Entscheidungskriterien für Beamte darüber vor, wo und wie die Kinder zu betreuen sind. „Aus praktischen Erfahrungen in gruppenpädagogischen Einrichtungen und aktiver Auseinandersetzung mit der Heimkampagne der 1970er Jahre entwickelten wir das Konzept des familienorientierten Heimes“, erklärt das Unternehmen auf seiner Internetseite.

Die Heimkampagne war aus der außerparlamentarischen Opposition der späten 1960er Jahre hervorgegangen, die eine Veränderung der als repressiv empfundenen Bedingungen in Kinder- und Jugendheimen herbeiführen wollte. Neben Aktivisten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) waren hierin auch die RAF-Terroristen Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin aktiv. Zudem bestanden personelle Verflechtungen zur Kinderladenbewegung, in der sich der grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit betätigt hatte.

Andererseits gibt es Fälle wie Nina R. aus Hamburg. Die 31jährige hat sechs Kinder von fünf verschiedenen Männern. Vor zwei Jahren soll sie laut Anklage der Staatswanwaltschaft vier Töchter eine Woche lang in ihrer verwahrlosten Wohnung allein gelassen haben. Vor dem Amtsgericht Hamburg beschreiben Zeugen den Zustand der Räume. Keine Möbel, die Zimmer vollkommen vermüllt. Als Schlafstätte dienten den Kindern unbezogene, auf dem Boden liegende und von Urin durchnäßte Matratzen. Der Kühlschrank war leer, nur eine Flasche Cola war noch da. Die Kinder im Alter von zwei bis zwölf Jahren waren schließlich von der Großmutter entdeckt worden, die sie zu sich nahm. Der jüngsten Tochter der Angeklagten mußten die Zähne entfernt werden, weil sie inzwischen verfault waren. Die Kinder versteckten Lebensmittel, hatten Angst, hungern zu müssen. Eine weitere Tochter von Nina R. kennt kein Sättigungsgefühl mehr, hört nicht auf zu essen. Das Jugendamt war seit Jahren mit dem Fall betraut.

Obwohl eine Familienpflegerin die Wohnung von Nina R. regelmäßig besuchte, unternahm die Behörde jedoch nichts. Die Betreuerin sollte vor Gericht als Zeugin vernommen werden. Doch das Jugendamt sperrt sich dagegen. Es dürften auch Fälle wie dieser sein, die das Jugendamt zum schnellen Kindesentzug verleiten.

 

Inobhutnahme

Nach § 42 des Sozialhilfegesetzes (SGB) ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind in Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für dessen Wohl vorliegt. Kann eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden, so darf es trotz Widerspruch der Sorgeberechtigten die Inobhutnahme vornehmen. Sie umfaßt die Befugnis, das Kind bei einer geeigneten Person, einer geeigneten Einrichtung oder einer sonstigen Wohnform unterzubringen. Die Inobhutnahme kann auch aufgrund von Hinweisen Dritter – wie Polizei, Ärzte oder Erzieher – erfolgen. 2009 haben Jugendämter 33.700 Inobhutnahmen vorgenommen, was im Vergleich zum Jahr 2004 eine Zunahme um 30 Prozent bedeutet. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben betroffene Eltern aufgrund fragwürdiger Inobhutnahmen inzwischen über 400 Petitionen eingereicht.

Fotos: Lena im Traumland: Nicht wenige der Inobhutnahmen erfolgen unter höchst fragwürdigen Umständen; Wieder vereint: Mutter Stephanie T. und Tochter Lena

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen