© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/11 / 02. September 2011

Pankraz,
Ariel Scharon und das Leben im Koma

Eine unheimliche Vision plagt die Gehirnmedizin, seitdem vorvergangenen Montag in Belgien ein Patient, Rom Houben mit Namen, heute 46 Jahre alt, aus einem sage und schreibe dreiundzwanzigjährigen Koma erwachte und zu Protokoll gab, er habe die ganze Zeit über bei vollem Bewußtsein „gelebt“, er habe alles mitbekommen, was um ihn herum geschah, nur habe er eben nicht den geringsten Kontakt zu seinem Körper mehr gehabt und sei deshalb völlig unfähig gewesen, mit der „Außenwelt“ zu kommunizieren.

Ärzte, Pfleger, Neurologen, Psychologen und viele potentielle Koma-Opfer fragen sich nun entsetzt, ob so etwas denn überhaupt möglich sei: jahrzehntelang bei vollem Bewußtsein Gefangener des eigenem Körpers zu sein, im Falle Houbens zwar „mit Fernseher“, aber gerade deshalb unendlich allein und echolos. Wie konnte der Mann so etwas 23 Jahre lang ertragen? Und warum konnte dem Gepeinigten niemand zu Hilfe kommen?

Fachkreise sprechen von „eklatanten Behandlungsfehlern“, Houben sei gar kein „richtiger“ Koma-Patient gewesen, sondern „nur“ ein total Gelähmter. Aber was heißt „komatisiert“ und was „nur gelähmt“? Die einschlägige Gehirnwissenschaft befindet sich hier noch ganz in den Anfängen. Houben selbst erzählt: „Als ich nach dem Unfall erwachte, hat mir nichts mehr im Körper gehorcht: Ich habe geschrien, doch nichts war zu hören. Machtlos mußte ich mit ansehen, wie Pfleger und Ärzte mich anzusprechen versuchten, wie sie alles mögliche unternahmen – bis sie eines Tages schließlich alle Hoffnungen aufgaben.“

Tausende solcher Patienten gibt es in unseren Kliniken, sie sind „austherapiert“, wie es im Fachjargon heißt, man läßt ihnen keine Heilbehandlung mehr zukommen, sondern hält lediglich ihre fundamentalen Körperfunktionen in Gang. Man wäscht sie und ernährt sie, ihren Geist hingegen beschäftigt man nicht, weil man glaubt, es gebe in ihnen gar kein Bewußtsein mehr, es könne bestenfalls irgendwann wieder einmal „aufwachen“. Allein diese Hoffnung hält den Betrieb in Gang, der sehr teuer ist und um dessen Kosten heftig zwischen Angehörigen und Krankenkassen gestritten wird.

Seit dem Bekanntwerden des Houben-Falles haben sich in den Kliniken zahlreiche mitleidige Seelen gemeldet, ältere, alleinstehende Frauen zumeist, die sich kostenlos um den Austherapierten „kümmern“, ihn unterhalten und geistig beschäftigen wollen. Sie zeigen ihm hübsche Bilder, erzählen ihm Geschichten, streicheln ihm das wachsbleiche, erstorbene Gesicht. Es ist sehr rührend und ergreifend, doch nicht alle Ärzte und Pfleger sind damit einverstanden. Der sachliche Arbeitsrhythmus der Klinik werde dadurch empfindlich gestört.

Manchmal nimmt die Pflege von Austherapierten auch hochpolitische Züge an, so im Falle des berühmten israelischen Ex-Generals und Ex-Ministerpräsidenten Ariel Scharon, geboren 1928, der vor fünf Jahren ins Koma fiel und seitdem in der Rehabilitationsstation des Scheba-Krankenhauses in der Nähe von Tel Aviv liegt. Viele Verehrer des Erkrankten, geschart um dessen ehemaligen langjährigen Berater und Freund Dov Weissglass, sind nicht mit der Diagnose „austherapiert“ einverstanden, glauben leidenschaftlich an die fotrdauernde geistige Präsenz Sharons und setzten durch, daß er „versuchsweise“ auf seine Farm im Süden des Landes gebracht wurde.

Inzwischen ist der Patient in die Klinik zurückgebracht worden. Doch es gibt nun gewissermaßen zwei Scharons, einen in der Klinik und einen in der Öffentlichkeit. Denn während Scharons Aufenthalt auf der Farm hat der Künstler Noam Braslawsky eine bis ins letzte Detail genaue Nachbildung des kranken Farmers geschaffen, die in der Kishon-Galerie in Tel Aviv allgemein zugänglich ist. Es ist eine „Installation“ mit wächsernem Gesicht, welche in einem Krankenbett liegt und an ein Beatmungsgerät angeschlossen ist, so daß sich der Brustkorb regelmäßig hebt und senkt, genau wie bei dem wirklichen Scharon in der Klinik.

Anfang 2011 gab ein Arzt des Scheba-Krankenhauses bekannt, der Patient Scharon reagiere auf Kneifen und öffne die Augen, wenn man ihn anspreche. Das reale Leben scheint also über die Kunst gesiegt zu haben, denn auf Kneifen und Ansprechen reagiert die Installation in der Kishon-Galerie nicht. Ungeklärt bleibt freilich, ob Scharon tatsächlich, wie Rom Houben, geistig voll präsent ist und in all den Jahren im eigenen Körper regelrecht gefangen war.

Die Klinikerfahrungen mit wiedererwachten Koma-Patienten sprechen an sich dagegen. Stets erwies sich, daß der Schlag bzw. der Schlaganfall, der das Koma verursacht hatte, gerade die „höheren“ Sprach- und logischen Denkregionen des Gehirns am empfindlichsten getroffen hatte, so daß die Wiedererwachten zwar fühlen und wie Babys angesprochen werden konnten, ihr eigenes Sprachvermögen aber noch lange nicht wirklich zurückgekehrt war. Selbst Rom Houben, die spektakuläre Ausnahme, muß sich seinen Partnern mühselig mit Hilfe eines Computers mit komplizierter Spezialtastatur mitteilen, und niemand weiß, ob sich das je ändern wird.

Wie es scheint, verfügt unser Gehirn über eine Art Hierarchieverständnis, dergestalt, daß zuerst das sogenannte Kleinhirn, welches die genuinen Überlebensstrategien und Grundwahrnehmungen reguliert, optimal in Tätigkeit treten muß, bevor Sprach- und Denkvermögen zum Zuge kommen können. Geist und Körper gehören, zumindest hier auf Erden, untrennbar zusammen, und der Körper hat dabei ein Prä, weil er dem Leben nähersteht, das die Mutter allen Seins, auch des geistigen Seins, ist.

Rom Houbens Erzählungen über seine dreiundzwanzig Jahre Geistesarbeit ohne Körperkontakt klingen ungeheuer sensationell und wundersam, fast wie eine leibhaftige Stimme aus einer überirdischen Welt. Sie klingen aber auch, bei allem Respekt, ein wenig nach Installation im Kishon-Museum. Als hätte ein moderner Künstler daran mitgewirkt. Man wird abwarten müssen, wie sich der Fall entwickelt.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen