© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/11 / 02. September 2011

Meister der Fußnote
Selbstloser Blockadebrecher: Zum Tode des flämischen Carl-Schmitt-Forschers Piet Tommissen
Günter Maschke

Die Carl-Schmitt-Forschung, das bin ich!“ hätte schon 1952 der damals 27jährige Piet Tommissen ausrufen können. Der Flame, den das Heidentum der Waffen-SS abstieß, trat während des Zweiten Weltkrieges in die Deutsche Wehrmacht ein, die ihn mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse auszeichnete; jetzt war er ein mittelloser Student der Nationalökonomie und Soziologie, der nach strapaziösen Fahrten in ein zerstörtes Land immer wieder Carl Schmitt im sauerländischen Plettenberg aufsuchte, ihn respektvoll, doch bis an die Grenze der Erbarmungslosigkeit ausfragte, und – die Epoche des Photokopierers war noch fern – auf seiner Reiseschreibmaschine Aberhunderte von Aufsätzen und Dokumenten mühselig abtippte, wobei er, an andere Interessenten denkend, mit Kohlepapier nicht sparte.

Sicher hatte der deutsche Staatsrechtler Schmitt, nach 1945 verfemt und diffamiert, noch einige andere treue Freunde, doch der anstrengendste Part kam Tommissen zu. Ohne den selbstlosen Blockadebrecher aus Flandern wäre Schmitts Ruhm wohl später eingetreten. Tommissen erstellte die erste größere Bibliographie (Versuch einer Carl Schmitt-Bibliographie, Academia Moralis, Düsseldorf 1953); er schrieb eine kaum überschaubare Reihe oft umfänglicher Studien (auf deutsch, französisch, flämisch, spanisch usw.) zu Leben und Werk unseres jüngsten Klassikers der Politik; er entdeckte und edierte bedeutende Korrespondenzen des großen Briefschreibers (unter anderem die mit Paul Adams, Hugo Fischer, Julien Freund), und er gab ab 1990 die zum Schluß acht Bände umfassende Reihe „Schmittiana“ (bei Duncker & Humblot) heraus, die für jede ernsthafte Beschäftigung mit Schmitt unverzichtbar sind. Der wirkliche Kenner muß sich zuerst eine Sammlung anlegen.

Tommissen war der Meister einer besonders edlen literarischen Gattung: der Fußnote. Seine Erklärungen, Kommentierungen, bibliographischen und biographischen Hinweise erfreuen auch nach wiederholter Lektüre den Feinschmecker und sind die besten Antidota gegen die furchtbaren Simplifikationen, die den Großteil der Schmitt-Literatur ausmachen. Sage mir, wie eifrig du Tommissens Fußnoten liest und ich sage dir, was von deinen Bemühungen um Schmitt zu halten ist!

Vor allem aber war Tommissen ein Schaltwerk der internationalen Forschung zu Schmitt oder, wenn man so will, deren Vermittlungszentrale. Da beinahe tout le monde ihn um Auskünfte, Materialien, Hinweise bat, wußte er auch, was in Sachen Schmitt weltweit geschah. Woran, um nur wenige Namen zu nennen, Jorge Eugenio Dotti in Argentinien, Alain de Benoist in Frankreich, Antonio Caracciolo in Italien, Jerónimo Molina in Spanien oder, sei’s drum, der Autor dieses Nachrufs gerade arbeiteten, Tommissen wußte es, und so konnte er zahlreiche fruchtbringende Kontakte stiften. Wer den intellektuellen Betrieb kennt, wird erstaunt sein, daß Tommissen der hier fast übermächtigen Versuchung widerstand, seine Kenntnisse zu rationieren oder gar zu monopolisieren. Das Beste, was du wissen kannst, mußt du den Schülern trotzdem sagen!

Was auch viele Bewunderer Tommissens bemängelten oder beklagten war, daß er selten eindeutig Stellung bezog und nur ungern grundlegende theoretische Annahmen formulierte. Diese Zurückhaltung war jedoch keine Schwäche eines Nur-Sammlers, sondern das Ergebnis einer gelegentlich allzu großen wissenschaftlichen Skrupulosität. Nach einem mehrstündigen Gespräch mit Tommissen sagte mein Freund Thor von Waldstein so begeistert wie perplex: „Wer hätte das gedacht! Der Mann ist ja ein unglaublicher Tiefstapler. Der hat ja alles drauf!“

Es wäre jedoch falsch, würde man Tommisssen nur als „Schmittologen“ sehen. Er war auch ein bedeutender Kenner der Schriften Vilfredo Paretos und Georges Sorels, zweier „Uranbergwerke“, wie Carl Schmitt gesagt hätte. Das Rätsel war nur, weshalb sich ein so friedfertiger und wohlwollender Mensch wie Tommissen ständig mit diesen und anderen geistigen dinamiteros, diesen intellektuellen Sprengmeistern befaßte. Seine späte Dissertation von 1971, „De economische epistemologie van Vilfredo Pareto“ (Sint-Aloysiushandelhogeschool Brüssel), nach der er erst, nach vielen Jahren in der Wirtschaft, die Hochschullaufbahn ergriff, wird für immer zu den wichtigsten Arbeiten über den illusionslosen „Einsamen von Céligny“ zählen, und Tommissens kenntnisreiche Studien über Sorel, diesen genialischen „Kreuzweg der revolutionären Ideologien“ werden immer Pflichtlektüre der heterogenen Leserschaft Sorels bleiben.

Von den Untersuchungen Tommissens zum französischen politischen Denken im 18. und 19. Jahrhundert, von seinen Essays über die surrealistische und dadaistische Avantgarde in Europa müssen wir hier notgedrungen schweigen; man konsultiere die liebevolle Bibliographie des Sohnes Koenraad Tommissen, „Een buitenissige Bibliografie van Piet Tommissen“ (La Hulpe, Belgien, Verlag Apsis, 2010).

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel, wie Tommissen Geistesgeschichte im weitesten Sinne betrieb, bietet sein spätes Hauptwerk „Economische systemen“ (Uitgeverij N. V. Deurne, 1987). Auf relativ knappem Raum (235 Seiten) wird hier die Geschichte der ökonomischen Ideen von der Antike bis zum nach-maoistischen China dargestellt, und die wieder einmal zahllosen Fußnoten und inhaltlichen Hinweise erschließen uns nicht nur das Drama des Ökonomischen, sondern auch den politischen, kulturellen und ideologischen Wurzelgrund des arbeitenden Menschen in der Geschichte. Ein gutes Buch macht die Lektüre von hundert anderen überflüssig und ermuntert uns zur Lektüre von tausend weiteren!

Piet Tommissen, das ist auch eine Unterrichtung über die anstrengende und beglückende Endlosigkeit des Fragens, Lesens, Sammelns, Denkens, Schreibens. „Willst Du ins Unendliche schreiten/ Geh nur im Endlichen nach allen Seiten“ sagt uns der Olympier aus Frankfurt am Main beziehungsweise Weimar. Piet Tommissen, geboren am 20. März 1925 im flämischen Grimbergen, starb am 21. August 2011 ebendort.

 

Günter Maschke ist Privatgelehrter, Publizist und einer der führenden Carl-Schmitt-Experten. Er lebt in Frankfurt am Main.

Foto: Piet Tommissen in seiner Bibliothek in Grimbergen: Eine Vermittlungszentrale, die zahlreiche fruchtbringende Kontakte stiftete

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