© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/11 / 02. September 2011

Haften wie eine Fauchschabe
DFG-Jahresbilanz: Tendenzen deutscher Forschungsförderung / Kürzeste Lichtblitze der Welt erzeugt / Wettrüsten im Rapsfeld
Wolfgang Schwarz

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), als „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ 1920 gegründet, ist die zentrale Selbstverwaltungsorganisation der Wissenschaft in Deutschland. Präziser formuliert ist die in Bonn residierende DFG eine Geldverteilungsstelle, die den Löwenanteil ihrer gewaltigen Mittel (Jahresetat 2010: 2,3 Milliarden Euro) Zuwendungen von Bund und Ländern – also dem Steuerzahler – verdankt.

Daher ist, ungeachtet ihrer starken Ausrichtung auf die Förderung von Grundlagenforschung zu den „Großthemen“ Gesundheit, Energie, Klima, Mobilität, Werkstoffe, Information und Sicherheit, die DFG-Führung mit Blick auf die nach konkreten, praktisch verwertbaren Ergebnissen lechzenden Finanziers bestrebt, gerade auch die anwendungsbezogene Wissenschaft nicht zu vernachlässigen. Durch geschickte Öffentlichkeitsarbeit, wie der Jahresbericht 2010 einmal mehr dokumentiert, entsteht gar der Eindruck, es fließe mehr Geld in Projekte, die den Erkenntnis- und Wissenstransfer aus dem Labor unverzüglich zu den Abnehmern in Wirtschaft und Gesellschaft versprechen.

Und in der Tat intensiviert die DFG, wie die Referentin Cornelia Pretzer im Jahresbericht beteuert, seit 2010 ihre Förderung von Kooperationen zwischen Hochschulen und wirtschaftlichen Institutionen. Die zunehmende praktische Orientierung in den Naturwissenschaften demonstriert die DFG-Bilanz an besonders plastischen Beispielen aus der Zoologie, Chemie und Pflanzenforschung. Dabei deutet zunächst wenig darauf hin, daß die häßlich-unscheinbare Madagaskar-Fauchschabe an Wissenschaftler gerichtete industrielle Verwertungswünsche erfüllen könnte.

Wer sie jedoch besser kennt, wie der Tübinger Zoologe Oliver Betz, staunt über ihre Fähigkeit, mit sechs Beinen eine spiegelglatte Glasfläche hinauflaufen zu können. Und sein eigenes Staunen hat Betz in ein von der DFG gefördertes Forschungsprojekt über „Flüssigkeitsvermittelte bionische Haftsysteme“ umgesetzt. Zusammen mit Chemikern und einer Arbeitsgruppe des Bremer Fraunhofer-Instituts für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung ist Betz daher seit einem Jahr dem Rätsel der Haftsekrete auf der Spur, die das exotische Insekt bei seinen Kunststücken auf der Glasplatte absondert.

Das Problem der chemischen Analyse liegt in der minimalen Menge der „Fußabdrücke“ der Schabe. Ist das dank des Tübinger Hochleistungsgeräteparks gelöst, kümmern sich die Bremer Fachleute für Klebetechnik und Oberflächen um das Zusammenwirkungen der Komponenten des Sekrets. Auch für den Laien erkennbar Richtung Praxis weisen diese Schaben-Studien, wenn er ein anderes Bremer Unterfangen ins Auge faßt, das ebenfalls „von der Natur lernen“ möchte: den bislang mäßig erfolgreichen Versuch, extrem bruchfestes Perlmutt nachzubauen. Am Ende soll verfügbar sein, was bislang nur Projekttitel ist: „Geklebte Keramikschichtwerkstoffe von höchster Zuverlässigkeit“.

Keine Mühe hat die Göttinger Pflanzenexpertin Christine Gatz, in den der DFG-Führung so wichtigen „Diskurs mit der Gesellschaft“ einzutreten. Die von ihr geleitete Forschergruppe aus Biologen, Agrar- und Forstwissenschaftlern widmet sich der Pilz-Kalamität in Rapsfeldern. Die in den letzten Jahren immer großflächiger angebaute Rapspflanze leidet unter dem Pilz Verticillium longisporum, einem Schädling, der in Norddeutschland und Skandinavien für wachsende Ernteausfälle sorgt. Der Pilz löst die „Rapswelke“ aus, die zu frühzeitigem Altern und endlich zum Absterben der Pflanze führt.

Gatz’ Mannschaft will herausfinden, welche Prozesse ablaufen, wenn die Wasserleitsysteme der Pflanze von einem Schädling besiedelt werden. Offenbar ist sie dem Pilz nicht wehrlos ausgesetzt und hat im Lauf der Evolution Abwehrmechanismen entwickelt. Doch in einem „wahren Rüstungswettlauf“ reagiert der Pilz darauf mit neuen Waffen. Christine Gatz hat er derzeit nicht zu fürchten, denn ihre Forschungen hätten zwar das „Potential, Erkenntnisse für die Anwendung zu liefern“. Aber: „Momentan können wir den betroffenen Landwirten noch nicht helfen.“

Schnellere Hilfe versprechen medizinische DFG-Projekte, die 2010 in Kiel und München realisiert wurden. Die Christian-Albrechts-Universität ist dank Bonner Förderung der am besten mit der neuen Generation von DNS-Sequenzierern (NGS) ausgestattete deutsche Hochschulstandort. Hier können nun bis zu mehrere hundert Millionen Erbgutabschnitte gleichzeitig erfaßt werden. „Pro Lauf, der knapp eine Woche dauert, sind es bis zu 190 Gigabasen: Das entspricht fast einhundertmal dem menschlichen Genom. Früher brauchte man für die gleiche Menge Jahre“, so die DFG. Diese innovative Technologie kommt optimal dem Exzellenzcluster „Entzündungsforschung“ zugute, an dem 200 Genetiker, Biologen und Ärzte erblich bedingten Krankheiten wie Morbus Crohn, Multipler Sklerose oder Parkinson auf den Grund gehen.

Dürfen sich die Kieler ihres „Quantensprungs in der Entschlüsselung menschlicher Sequenz“ erfreuen, ist München mit dem DFG-Sonderforschungsbereich „Bildgebung zur Selektion, Überwachung und Individualisierung der Krebstherapie“ auf dem Weg zum Diagnostikzentrum für Herz- und Kreislauferkrankungen, für Alzheimer, Parkinson und Krebs.

Seit November 2010 verfügt die Nuklear-medizinische Klinik im Krankenhaus rechts der Isar über den weltweit ersten Drei-Tesla-Magnetresonanz-Positronen-Emissions-Tomographen, der in ein neues Zeitalter bildgebender Diagnostik vorstößt. Mit dieser Weltneuheit können etwa Tumorgewebe in einem sehr frühen Stadium erkannt werden.

Den Zuschlag für dieses Gerät erhielt die Klinik auch wegen ihres ausgezeichneten Umfeldes. So arbeiten im benachbarten DFG-Exzellenzcluster „Munich Centre of Advanced Photonics“ weltweit führende Forscher, um künftige Quantencomputer sowie eine schärfere Aufnahmetechnik für die medizinische Diagnostik zu entwickeln.

Es ist ihnen mittlerweile gelungen, „die kürzesten Lichtblitze der Welt“ zu erzeugen. Damit lassen sich Bewegungen von Elektronen in Echtzeit beobachten, so daß man die mikroskopischen Ursachen von Krankheitsausbrüchen oder winzig kleine Tumore entdecken kann. Bei diesen wie bei anderen im DFG-Jahresbericht vorgestellten Forschungsprojekten fällt auf, daß die Strategie, die Anwendungsrelevanz zu erhöhen, zu realisieren ist, ohne daß dabei das mit maximalem Werbeaufwand kommunizierte Zukunftsziel „Internationalisierung“ und „Förderkooperation mit Partnern im Ausland“ eine hilfreiche Rolle zu spielen scheint.

„Jahresbericht 2010“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Internet: www.dfg.de Datenbank der DFG-geförderten Projekte: http://gepris.dfg.de

Foto: Klettern wie eine Schabe: Erkenntnisse aus der Zoologie, Chemie oder Pflanzenforschung für Güterproduktion und Alltagstechniken nutzen

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