© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

Anbiedern nützt nichts
Europa: Trotz postnationaler Beschwörungen sind die Deutschen wieder unbeliebt
Thorsten Hinz

Man lasse sich nicht täuschen: Der anschwellende Chorgesang, der jetzt nach „mehr Europa“ ruft, meint keine europäische Idee, die den Namen verdient. Es geht darum, die sehenden Auges herbeigeführte Euro- und Schulden-Katastrophe zu kaschieren und soweit zu beherrschen, daß sie den machthabenden Eliten nicht gefährlich wird. Die Interessen und Motive differieren dabei je nach Land und Institution: Die Brüsseler Eurokraten wollen ihren lange angestrebten Zentralismus endlich etablieren. In den Mittelmeerländern sind sich Regierung und Demos darin einig, daß eine von den Nordländern zu finanzierende Transfer-union verbindlich installiert werden soll. Die deutschen Funktionseliten, die sich am lautesten gebärden, die sogar nach den „Vereinigten Staaten von Europa“ rufen, wollen ihr anhaltendes Versagen gegenüber dem eigenen Volk anonymisieren, indem sie die Entscheidungskompetenz ganz nach Brüssel verlagern.

Wo sie noch anzumahnen wagen, daß die Übernahme fremder Risiken von den Nehmerländern durch Haushaltskonsolidierung honoriert werden müsse, werden umgehend Hakenkreuz-Plakate gezückt. Was Hitler nicht geschafft hat, vollende jetzt Angela Merkel, tönt es gerade wieder in der britischen und italienischen Presse. Eine absurde Unterstellung, die aber zeigt, daß der EU- und Euro-Bau auf Heuchelei und schiefen Voraussetzungen errichtet wurde. Nur haben die Deutschen – wieder einmal – die Geschäftsgrundlage der europäischen Politik verkannt.

Der ungarische Schriftsteller Peter Esterhazy sagte 2004 bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels: „Die Deutschen haben die eigenen Vergehen beim Namen genannt, die eigenen Leiden haben sie nicht beim Namen genannt. Die eigenen Missetaten durch die deutschen Missetaten zu verdecken, ist eine europäische Gewohnheit. Der Haß gegen die Deutschen ist Europas Fundament in der Nachkriegszeit.“ Überdies ist er ein Geschäftsmodell, das durch die deutsche Scheckbuchdiplomatie und die Einführung und „Rettung“ des Euro bedient worden ist – bis an den Rand des eigenen Staatsbankrotts. Mit einer europäischen Idee hat das wenig, mit nationalen Egoismen und politischem Wunschdenken eine Menge zu tun.

Es ist ja in der Tat kompliziert: Die fortgesetzte Nachgiebigkeit Deutschlands verlängert einerseits die Anspruchshaltung der Partner ins Unendliche. Andererseits wird noch der selbstloseste Europa-Entwurf aus Deutschland, der die anderen im kontinentalen Interesse ebenfalls in die Pflicht nehmen muß, als Wiederkehr des Hegemonialanspruchs und Angriff auf europäisches Gewohnheitsrecht empfunden und erneuert damit den Hitler-Vorwurf. Das ist die komplizierte Ausgangslage, die eine deutsche Europa-Politik erst einmal wahrnehmen muß, um einen Ausweg zu finden. Das dümmliche Beschwören postnationaler Identitäten und das Verdrängen politischer Konflikte hilft so wenig weiter wie der fehlgeschlagene Versuch, divergierende Mentalitäten, Interessen, Geld- und Wirtschaftsphilosophien durch eine gemeinsame Währung zusammenzuführen.

Schließlich: Im Zweifelsfall ist das Blut noch allemal dicker als die Tinte, mit der Verträge, Verfassungen und staatsbürgerliche Loyalitätserklärungen unterzeichnet werden. Im Frühjahr 2010, als es um Hilfszusagen für Griechenland ging, ergriff der FDP-Europaabgeordnete Jorgo Chatzimarkakis, der „kretische Saarländer“, als erster Partei für den Pleitestaat. Und als die Finanzhilfen für das strauchelnde Portugal von den Finnen in Frage gestellt wurden, meldete sich sofort ein anderer Europa-Abgeordneter der FDP zu Wort und forderte, den Abstimmungsmodus zu ändern, um Finnland überstimmen zu können. Der forsche Volksvertreter hieß Alexander Alvaro und besitzt neben der deutschen auch die portugiesische Staatsbürgerschaft. Natürlich würden Chatzimarkakis und Alvaro behaupten, daß ausschließlich europäische Motive für ihre Forderungen ausschlaggebend waren. Dann bliebe festzuhalten, daß ihre Europa-Motive sich haargenau mit den Wünschen ihrer Herkunftsländer decken und diese für sie wichtiger sind als die Einbußen der deutschen Wähler, mit deren Stimmen sie ins Europaparlament eingezogen sind. Deutsche Politiker und Journalisten loben – von Ausnahmen abgesehen – unverdrossen die sogenannten griechischen Sparanstrengungen, die für 2020 beschlossene spanische Schuldenbremse oder – wie kürzlich die Wochenzeitung Die Zeit – den französischen Präsidenten Sarkozy als neuen „Verfechter der Stabilität“. Es ist die altbekannte Schwäche von politischen Romantikern, in der Politik die Deklamation mit Tatsachen zu verwechseln.

All die bundesdeutsche Vielfalt, Buntheit, Weltoffenheit und was der Phrasen mehr sind, die Reiselust und die Internationalisierung der Lebenswelt haben weder das politische Bewußtsein noch das Verständnis für die Interessenlage und Mentalitäten anderer Länder geschärft. Diese waren und sind bloß der Spiegel eigener Träume, Erwartungen, Komplexe und Projektionen.

Einst wollte der deutsche Machtstaat Europa erzwingen, indem er es überwältigte. Heute will das machtvergessene Deutschland Europa erschaffen, indem es in ihm verschwindet. Der erste Versuch ist unter Getöse gescheitert. Der zweite fiebert gerade seinem Waterloo entgegen.

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