© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

„Ein weiterer 11. September ist möglich“
Mit seinem Buch „Die Zukunft des Krieges“ nahm er das, was wir seit den Anschlägen von New York erleben, vorweg und wurde weltweit bekannt. Ein Gespräch mit dem israelischen Militärhistoriker Martin van Creveld.
Moritz Schwarz

Herr Professor van Creveld, Sehen Sie die Vorhersagen Ihres Buches durch den 11. September 2001 und die zehn Jahre seitdem bestätigt?

Creveld: Unglücklicherweise ja. Aber lassen Sie mich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen: Zufällig erschien „Die Zukunft des Krieges“ ausgerechnet an dem Tag, an dem die US-Invasion des Irak von 1991 begann. Nicht überraschend, daß damals jeder dachte, das Buch sei meschugge: Schließlich hatte sich soeben die größte konventionelle Streitmacht seit dem Zweiten Weltkrieg versammelt, und ausgerechnet da kommt dieser komische Typ aus Jerusalem und behauptet, der konventionelle Krieg sei dem Untergang geweiht. Statt dessen gehöre die Zukunft der Strategie des Schürens von Aufständen, des Guerillakriegs und des Terrorismus.

Ebenfalls nicht überraschend, daß sich damals das Buch zunächst nur schleppend verkaufte.

Creveld: Leider. So daß ich mir schließlich überlegte, Abu Nidal anzurufen – der Chef-Terrorist schlechthin zu dieser Zeit – und ihm einen Handel vorzuschlagen: Wenn er das Welthandelszentrum in New York in die Luft sprengen würde, würde ich meine Einnahmen aus dem Buchverkauf mit ihm und seiner Truppe teilen. Später stellte sich heraus, daß schon ein paar andere Araber den Plan dazu gefaßt hatten – ganz ohne meine Hilfe.

Wie lautet Ihre Bilanz für zehn Jahre „Krieg gegen den Terror“?

Creveld: Tja, schwierig ... da unterliegt schließlich so viel der Geheimhaltung. Nach Informationen der Washington Post unterhalten allein die USA 1.271 Regierungsorganisationen und kooperieren mit 1.931 privaten Firmen, die mit der Terrorismusbekämpfung beschäftigt sind. Und diese produzieren so viele Informationen, daß niemand sie mehr bewältigen kann. Zum Beispiel müssen die Rechner der NSA ...

... der National Security Agency, des größten Militärnachrichtendienstes der USA ...

Creveld: ... die für das elektronische Abhören zuständig ist, jeden Tag 1,7 Milliarden Nachrichten durchforsten! Und gleichzeitig halten sie das meiste geheim – und das nicht nur vor der Öffentlichkeit, sondern auch vor den anderen genannten Organisationen. Vielleicht ist also die beste Weise, Ihre Frage zu beantworten, nicht erledigte Gegner zu zählen, sondern einmal zu betrachten,  wie der Kampf gegen den Terror unseren Lebensstil und unsere Landschaft verändert hat.

Unsere Landschaft?

Creveld: Allein in Washington D.C. sind seit September 2001 sage und schreibe 33 Gebäudekomplexe für Geheimdienstzwecke errichtet worden beziehungsweise sind noch im Bau. Zusammen bringen sie es auf fast 1,6 Millionen Quadratmeter Bürofläche, dem Äquivalent von beinahe drei Pentagons oder 22mal das US-Kapitol. Nun ja, und das schließt noch nicht einmal die Panzersperren, die Elektrozäune und die elektromagnetischen Durchgänge ein, an denen die zahlreichen Sicherheitskontrollen stattfinden, die einen etwa davon abhalten, seine Rasiercreme mitzunehmen, wenn man ein Linienflugzeug besteigt. All das ist so gegenwärtig, daß es meine Frau und mich heute morgen eine Dreiviertelstunde gekostet hat, nur um das Oberste Gericht in Jerusalem zu betreten, wo wir einer Verhandlung beiwohnen wollten.

Nach dem 11. September 2001 befürchteten viele, dies wäre der Auftakt zu einer Serie strategischer Terroranschläge gegen den Westen. Warum war das nicht der Fall?

Creveld: Vielleicht weil wir durch die Entsendung von Truppen in Länder wie Irak und Afghanistan die Terroristen mit einfacheren, leichter zugänglichen Zielen versorgt haben?

Sie scheinen vom Sinn dieser Feldzüge nicht überzeugt zu sein?

Creveld: Das stimmt. Wie denn auch, nach zehn beziehungsweise acht Jahren?

Das Erste deutsche Fernsehen kommt in seiner jüngsten Großreportage „Die Falle 9/11“ aus Anlaß des zehnten Jahrestages des 11. Septembers, zu dem Schluß, daß die USA in eine Falle getappt seien: Sie haben sich in einen Krieg hineinziehen lassen, den sie militärisch nicht gewinnen, moralisch jedoch bereits verloren haben – Stichworte: zivile Opfer, Guantánamo oder Abu Ghraib.

Creveld: Das scheint mir die Perspektive linksgerichteter Europäer zu sein, der sicherlich nicht jeder zustimmen wird. Man mag dagegen zum Beispiel einwenden, daß wiederholte Einblicke in das Leben in Guantánamo helfen, einen Abschreckungseffekt zu erzeugen, der einige potentielle Terroristen dazu bringt, sich die Sache zweimal zu überlegen.

Der in Deutschland sehr bekannte Journalist Peter Scholl-Latour sieht Amerika aus einem anderen Grund als besiegt an: „Das Kalkül war, die USA in einen ‘war of attrition’, einen ‘Abnutzungskrieg’, zu verwickeln ... In der Tat sind diese heute sowohl finanziell wie militärisch kaum mehr in der Lage, irgendwo zu intervenieren. Ihre Kräfte sind überspannt.“

Creveld: Nun, ich würde das bezweifeln. Der Haushaltsposten Verteidigung nimmt heute einen geringeren Anteil am US-Bruttosozialprodukt in Anspruch als während des Kalten Krieges, geschweige denn während des Zweiten Weltkrieges – damals ist der amerikanische Lebensstandard sogar deutlich gestiegen. Umgekehrt: Das horrende US-Budgetdefizit, über das derzeit alle sprechen, ist vor allem Folge der Sozialausgaben – erst in zweiter Linie ist das Pentagon dafür verantwortlich. Übrigens, laut einer aktuellen Zeitungsmeldung droht etwa der amerikanischen Post viel eher die Pleite, als etwa dem US-Militär.

Also können umgekehrt die Befürworter des „Kriegs gegen den Terror“ für sich reklamieren, diesen Krieg gewonnen zu haben?

Creveld: Ich kenne niemanden, der beansprucht, der „Krieg gegen den Terror“ wäre gewonnen worden. Und nur wenige glauben, daß er überhaupt „gewonnen“ werden kann – im eigentlichen Sinne des Wortes: Also daß es gelingen könnte, den Willen des Gegners zu brechen und ihn zu zwingen, sich unseren Forderungen zu unterwerfen. Ich jedenfalls tue das nicht.

Was hätte man anders machen müssen, um den „Krieg gegen den Terror“ zu gewinnen?

Creveld: Den Eindruck, den man hat, ist der eines gewaltigen, aber ungeschickt angestellten Versuchs, verzettelt in zahllose verschiedene Richtungen. Viel scheint der Devise zu folgen: „Das allerwichtigste ist Rückendeckung“ – sprich keiner will die Verantwortung übernehmen, wenn etwas schiefläuft. Andererseits scheitert vieles an der schieren Größe, die eine vernünftige Koordination unmöglich macht. Wie ich schon sagte, Geheimhaltung – offensichtlich unabdingbar – macht die Dinge so schwierig. Also lautet meine Antwort auf Ihre Frage: Die Bemühungen zu fokussieren, zu fokussieren und noch einmal zu fokussieren!

Osama bin Laden ist tot, große Anschläge hat es zudem lange nicht mehr gegeben. Al-Qaida scheint erschöpft zu sein. Oder täuscht dieser Eindruck?

Creveld: Ich nenne nur Bali und Djerba, Madrid und London, zudem übersehen Sie offenbar etliche weitere Anschlagsversuche, die mißlungen sind. Natürlich alle kleiner als der 11. September, aber alle scheinen sie des gleichen Geistes zu sein: Und der heißt islamischer Terrorismus. Ginge es nicht um den Islam oder den Islamismus, würde die Zahl der Terrorattacken weltweit wohl um neunzig Prozent oder mehr sinken. Zudem: Als sich vor zehn Jahren überraschend der 11. September ereignete, wie viele Leute hatten da zuvor etwas von al-Qaida gehört? Außerdem, die Kosten der Operation waren begrenzt. Ich selbst habe sie auf eine halbe Million Dollar geschätzt – und nachträgliche Analysen haben diese Zahl etwa bestätigt. Mit anderen Worten: Wir sollten nicht vergessen, wie gering die nötigen Mittel sind, um einen weiteren 11. September möglich zu machen.

Und doch ist der 11. September – auch im Vergleich zu den übrigen Anschlägen – einmalig geblieben. Das fördert bei manchem den Verdacht, es habe sich um einen „Inside-job“, eine Operation westlicher Geheimdienste gehandelt.

Creveld: Es sind so viele Theorien im Umlauf, inklusive einer von Lyndon Larouche, gemäß der der 11. September ein mißlungener Versuch der US-Armee war, das Land zu übernehmen, und einer, die den Mossad dafür verantwortlich macht. Letztgenanntem wurde gar vorgeworfen, die Attacken deshalb organisiert zu haben, um die Araber anzuschwärzen und sie in den Augen der Amerikaner zu diskreditieren. Jeder köchelt so sein Süppchen, in dem er rührt, in der Hoffnung, Aufmerksamkeit zu erringen.

Offenbar können Sie also den sogenannten Verschwörungstheorien zum 11. September nichts abgewinnen? Immerhin listen die Vertreter dieser Theorien in ihren Büchern aber doch zahlreiche Ungereimtheiten auf.

Creveld: Ich weiß nicht, ob Sie jemals mit einer Horde von Steuerbeamten konfrontiert waren, die Sie der Einkommenssteuerhinterziehung beschuldigt hat? Falls ja, dann wissen Sie, wie leicht manche Leute mit ihrer Einbildungskraft Amok laufen und alle möglichen Dinge erfinden, die hätten passiert sein können, tatsächlich aber nie passiert sind. Wie heißt es so schön: Wirft ein Dummer einen Stein in den Brunnen, braucht es zehn Weise, um ihn wieder herauszufischen – falls er überhaupt je wieder ans Tageslicht gebracht werden kann. 

Inzwischen ziehen sich die USA aus dem Irak zurück und planen das auch für Afghanistan. Wird so der Konflikt entschärft?

Creveld: Ich bezweifle, daß der US-Rückzug aus Irak oder Afghanistan große Auswirkungen auf den Terror oder den „Krieg“ dagegen haben wird. Auf der einen Seite sind die Einwohner dieser Länder nämlich zweifellos zu beschäftigt damit, sich gegenseitig umzubringen, um anderen Ländern allzuviel Aufmerksamkeit zu schenken. Auf der anderen Seite: Ist es nicht eines der hervorstechenden Merkmale terroristischer Organisationen, daß sie international sind und nicht einfach in einem Land besiegt werden können?

Warum sind die USA in Afghanistan und Irak gescheitert, Franzosen und Briten in Libyen aber nicht?

Creveld: In Libyen hatten wir es schließlich nicht mit Terrorismus oder einem Guerillakrieg zu tun, sondern mit einem bewaffneten Aufstand rivalisierender Stämme, einige pro Gaddafi andere gegen ihn, die sich offen bekämpften. Letztere wurden von der französischen und britischen Luftwaffe unterstützt – und dennoch hat es fünf Monate gedauert, das Land zu erobern. Jedoch, und so war es in Afghanistan und im Irak, dies könnte durchaus noch nicht das Ende der Geschichte sein. Ich wäre keineswegs überrascht, wenn wir in nächster Zeit von einem ersten Selbstmordanschlag hören, der Tripolis erschüttert.

Gibt es denn zwischen dem „Krieg gegen den Terror“ und dem „Arabischen Frühling“ irgendeine Art von Zusammenhang?

Creveld: Um ehrlich zu sein: Keine Ahnung. Aber ich bezweifle, ob das irgend jemand weiß. Es ist jedoch durchaus möglich, daß das sogenannte arabische „Erwachen“ mit noch mehr sogenannten „failed states“, also „gescheiterten Staaten“, endet, in denen Terroristen schalten und walten können, wie es ihnen gefällt.

Also ist Ihre Bilanz zehn Jahre nach dem 11. September eher negativ?

Creveld: Wissen Sie, ich finde es ist trotz aller Probleme vor allem wichtig, die Relationen nicht außer acht zu lassen, ich meine, nicht die Perspektive zu verlieren: Während der sechs Jahre des Zweiten Weltkriegs starben etwa 27.000 Menschen pro Tag. Die Gesamtzahl der Toten betrug schließlich zwei Prozent der damaligen Weltbevölkerung! Darüber hinaus werden die Älteren unter uns sich noch an den Kalten Krieg erinnern, als man sich jeden Tag fragte, ob denn am nächsten Tag noch die Sonne aufgehen würde und ob unsere Kinder noch eine Welt haben würden, in der sie leben könnten. So schlimm es ist, aber der Terrorismus scheint weder in der Lage zu sein, die „Welt, wie wir sie kennen“, wie es so schön heißt, zu zerstören, noch Verluste vergleichbar mit der Zahl zu erzeugen, wie wir sie im Zweiten Weltkrieg erleiden mußten. In dieser Hinsicht ist die Epoche, die wir derzeit erleben, doch ein großer Fortschritt.

 

Prof. Dr. Martin van Creveld, der israelische Experte gilt als einer der „weltweit führenden Militärtheoretiker“ (taz) bzw.  „einer der renommiertesten Militärhistoriker der Gegenwart“ (Welt). Immer wieder erregt er mit unkonventionellen Thesen Aufsehen. Internationale Bekanntheit erlangte er 1991 mit seinem Buch „The Transformation of War“ („Die Zukunft des Krieges“, Gerling Akademie Verlag). Darin nahm er die Formen des Krieges vorweg, mit denen sich der Westen seit dem 11. September 2001 konfrontiert sieht. Van Creveld beriet die Streitkräfte verschiedener Nationen, darunter auch das US-Verteidigungsministerium. Sein jüngstes,  2009 erschienenes „faszinierendes“ Buch (Süddeutsche Zeitung) „Gesichter des Krieges“ (Siedler Verlag) beschreibt den Wandel bewaffneter Konflikte und gibt einen Ausblick auf die Zukunft des Krieges im 21. Jahrhundert. Der Historiker an der Hebräischen Universität von Jerusalem wurde 1946 in Rotterdam geboren.

 www.martinvancreveld.com

Foto: US-Truppen in Afghanistan: „Warum gab es keinen weiteren Anschlag wie damals? Vielleicht weil wir durch unsere Soldaten die Terroristen mit leichter zugänglichen Zielen versorgt haben“

 

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