© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

„Geniales Ergebnis“
Mecklenburg-Vorpommern: Ministerpräsident Erwin Sellering kann in aller Ruhe zwischen Linkspartei und CDU als Koalitionspartner wählen
Christian Schwiesselmann

Der Wähler zwischen Elbe und Oder mag es bodenständig. Erwin Sellering, der Jurist aus Nordrhein-Westfalen, paßt in die Landschaft. Fast gelassen verkündete er am Sonntag den Wahlsieg der Sozialdemokraten, die ihre Stellung als stärkste Partei ausbauen konnten. 23 der insgesamt 36 Direktwahlkreise gingen an die SPD, lediglich zwölf CDU-Hochburgen in Vorpommern und bei Parchim blieben in Unionshand. Dabei hätte Sellering eigentlich Grund zur Sorge: Fast jeder zweite Wahlberechtigte blieb zu Hause. Mit 51,4 Prozent war die Wahlbeteiligung so niedrig wie noch nie seit der Neugründung Mecklenburg-Vorpommerns im Jahr 1990. Selten gaben bei einer Landtagsawahl weniger Bürger ihre Stimme ab.

Sellering hat nun die Qual der Wahl – eine Koalition ist rechnerisch mit der CDU und der Linkspartei möglich. Der Spitzenkandidat der Linkspartei, Helmut Holter, buhlte deshalb am Wahlabend heftig um die Gunst Sellerings: „Rot-Rot ist möglich, die Linke steht bereit“, rief der 58jährige seinen Anhängern zu, die sich über 18,4 Prozent nicht recht freuen mochten.

Der blasse CDU-Spitzenmann Lorenz Caffier hat mit 23,1 Prozent das schlechteste Ergebnis in der Unionsgeschichte zu verantworten. Selbst unter der Knute der Sowjets 1946 lag die Partei über der 30-Prozent-Marke. Caffiers Erklärung für das Desaster hat mit Selbstkritik wenig zu tun: Viele CDU-Wähler seien nicht zur Abstimmung gegangen, weil sie die Kreisgebietsreform ablehnten, sagte der 56 Jahre alte Innenminister, der das Reformvorhaben gegen die Basis der Union exekutierte. „Ich bleibe der Kapitän der Mannschaft“, kündigte Caffier dennoch an. Für manchen in der Union dürfte das wie eine Drohung klingen. Trotz der politischen Enthauptung im Landtag blieb die Union bei den Kreistagswahlen in den sechs neuen Großkreisen mit 29 Prozent stärkste kommunalpolitische Kraft vor SPD (27,5 Prozent) und Linkspartei (19,2 Prozent).

 Die CDU ans Kreuz, die FDP in den Staub: Die Liberalen, die 2006 nach zwölf Jahren mit fast zehn Prozent wieder ins Schweriner Schloß einzogen, sind mit 2,7 Prozent politisch erledigt. Von den knapp 80.000 Zweitstimmen vor fünf Jahren verblieben 18.000 bei der ehemaligen Steuersenkungspartei. Statt dessen triumphierten die Grünen mit 8,4 Prozent. Als einzige Partei verzeichneten sie im Vergleich zu 2006 einen absoluten Zugewinn an Zweitstimmen, die sie auf 56.438 mehr als verdoppelten. Spitzenkandidatin Silke Gajek sprach von einem „genialen Ergebnis“. Vor allem bei Erstwählern punktete die Partei. Bei einer fiktiven Vorab-Landtagswahl, einem Projekt des Rostocker Jugendringes, stimmten fast 50 Prozent der Jugendlichen für die Grünen. Daß alle sechs Listenkandidaten aus den größten Städten des Landes kommen – Rostock, Schwerin, Stralsund, Greifswald – sagt etwas über deren städtisch-studentische Wählerschichten aus. Ein potentiell linker Humusboden, auf dem auch die Piratenpartei (1,9 Prozent) gedeiht.

Mit einem Wähleranteil von 18 bis 20 Prozent fischte die NPD unter Arbeitslosen erfolgreich. Bei den männlichen Jungwählern in der Altersgruppe von 18 bis 24 Jahren brach sie nach den Wählerbefragungen von Infratest dimap etwas ein, hielt sich aber immer noch überdurchschnittlich. Obwohl die rauflustige Oppositionspartei – 486 Ordnungsrufe in fünf Jahren – Mecklenburg-Vorpommern mit 80.000 Plakaten überflutete, verlor sie 15.000 Wählerstimmen und landete bei sechs Prozent.

Die Nachwahlen im Westen Rügens am 18. September bergen unterdessen eine politische Pikanterie. Jetzt wurde bekannt, daß der anstelle des verstorbenen Abgeordneten Udo Timm nachnominierte Unionskandidat Thomas Gens früher DVU-Mitglied war – 2001 sogar deren geschäftsführender Landesvorsitzender. Die Union zog die Notbremse: Sie schloß den Bürgermeister von Hiddensee mit der Begründung aus, daß er beim Eintritt 2004 nicht über seine frühere Parteizugehörigkeit informiert habe. Da Gens trotzdem antritt, steht die Union nackt da.

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