© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Am Rande der Verzweiflung
Marcus Schmidt

Wie es sich anhört, wenn renommierte Professoren der Verzweiflung nahe sind, war am Montag bei einer Anhörung des Innenausschusses des Bundestages zu erleben. „Egal was, aber machen Sie es gemeinsam“, entfuhr es dem Augsburger Mathematiker Friedrich Pukelsheim, und seine Frankfurter Kollegin, die Staatsrechtlerin Ute Sacksofsky, flehte die Abgeordneten an: „Versuchen Sie sich zu einigen!“

Anlaß für die dramatischen Appelle der Wissenschaftler ist der nicht enden wollende Streit der Parteien um die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte Wahlrechtsreform. Zur Erinnerung: 2008 hatte Karlsruhe das Bundeswahlgesetz teilweise für verfassungswidrig erklärt. Stein des Anstoßes war eine Regelung, die im Zusammenhang mit den sogenannten Überhangmandaten zu einem „negativen Stimmgewicht“ führt
(JF 19/11). Bei diesem Phänomen kann ein Zuwachs an Zweitstimmen für eine Partei den Verlust von Mandaten bedeuten; umgekehrt kann eine Partei Sitze dazugewinnen, wenn sie Zweitstimmen verliert. Das Gericht ahnte wohl, wie schwer sich die Parteien mit der Gesetzesänderung tun würden und räumte eine großzügige Frist ein. Doch diese lief am 30. Juni dieses Jahres ab, ohne daß der Bundestag eine Wahlrechtsreform beschlossen hat.

Mittlerweile haben CDU und FDP, SPD, Linkspartei und Grüne immerhin Gesetzentwürfe vorgelegt, die bei der Anhörung des Innenausschusses von den Sachverständigen äußerst unterschiedlich bewertet wurden. So ganz zufrieden waren sie mit keinem,  doch der Entwurf der schwarz-gelben Koalition, der die Verbindung von Landeslisten einer Partei abschaffen will, fand noch am meisten Gnade. Durch den Verzicht auf Listenverbindungen würde das Phänomen des negativen Stimmengewichts wesentlich seltener auftreten.

Die Union nutzte ihren Punktsieg in der Anhörung sogleich zu einem Angriff auf die Opposition. SPD, Linkspartei und Grüne mißbrauchten die vom Bundesverfassungsgericht aufgegebene Reform des Wahlrechts, um die Überhangmandate abzuschaffen. „Damit haftet diesen Entwürfen der schale Beigeschmack an, daß mit ihnen weniger das Wahlrecht reformiert, als die Mandatsverteilung zugunsten bestimmter Parteien verändert würde“, sagte CDU/CSU-Fraktionsvize Günter Krings (CDU) und betrieb damit gleichfalls Parteipolitik.

Bei allen Differenzen bei der Beurteilung der vier unterschiedlichen Gesetzentwürfe scheinen den versammelten Experten die Folgen einer weiteren Verzögerung bei der Wahlrechtsreform bewußter zu sein als den Abgeordneten. Pukelsheim warnte die Parlamentarier davor, daß ein mangelnder Konsens bei  Fragen des Wahlsystems dem demokratischen Gemeinwesen die Gewißheit seiner Legitimation entziehe.

Sollte es bis zur nächsten Bundestagswahl nicht zu einer Einigung kommen und Schwarz-Gelb keinen Alleingang wagen, würde auf Grundlage eines  teilweise verfassungswidrigen Gesetzes gewählt. Aber das hat 2009 ja auch fast niemanden gestört.

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