© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

Analoge Schüsse auf die Mauer
Ausstellung: Fotografien zeigen die frühe Berliner Mauer von der Ostseite
Christian Dorn

Für den Betrachter aus West-Berlin war die Mauer in der Regel eine glatte Betonwand. Für die Bewohner auf der anderen Seite, die dahinter eingepfercht waren, sah dies zumeist anders aus – vor allem in den frühen Jahren, als die Grenze oftmals aus Ruinen, Haus- und Friedhofsmauern, Drahtzäunen, Stacheldrahtverhauen und übereinandergeschichteten, horizontalen Betonstreifen bestand. Gleichwohl konnte sich die eingesperrte Bevölkerung im Ostteil Berlins hiervon kein dauerhaftes Bildnis machen. Denn das Fotografieren der Mauer, jenes Symbols, das die eigene Unfreiheit und Unmündigkeit demonstrierte, war strengstens verboten.

Dieses staatliche Verbot korrespondierte mit dem zunehmenden Versuch der eingemauerten Ostberliner, „dies alles nicht mehr wahrzunehmen“. So erklärt der Schriftsteller Lutz Rathenow in dem Band „Weltende – Die Ostseite der Berliner Mauer“ (JF 33/11) das stille Einverständnis von Millionen Menschen mit der eigenen Ohnmacht.

Doch auch die DDR–Führung mißtraute ihrer Selbstrechtfertigung vom „antifaschistischen Schutzwall“. Denn, so Rathenow, „warum wurde kein Bildband mit dem Titel ‘Die sicherste und sauberste Grenze der Welt’ stolz in alle Welt hinausveröffentlicht? Tief im Innersten mußten sie doch Komplexe haben und ahnen, mit der Teilung Berlins etwas sehr Häßliches getan zu haben und weiterhin zu tun, auch wenn man staatlicherseits versuchte, es hinter der zynischen Metapher der ‘Friedenssicherung’ zu verhüllen.“

Anders als in dem zitierten Band „Weltende“, der heimliche Fotos des damaligen Ost-Berliners Detlef Matthes zeigt, der hierfür noch in der Spätphase der DDR inhaftiert worden war, fotografierten im Jahr 1966 Soldaten der DDR-Grenztruppen den gesamten Mauerverlauf Berlins. Damit sollte der schlechte Zustand der „pioniertechnischen Anlage“ (PTA) – des 43,7 Kilometer langen Sperriegels zwischen den Bezirken Treptow und Pankow – dokumentiert werden, um die bestehenden Schwachstellen der Grenze aufzulisten. Der Fotograf Arwed Messmer und die Autorin Annett Gröschner waren 1995 zufällig im Militärischen Zwischenarchiv Potsdam (heute Bundesarchiv) auf dieses Material in einem unscheinbaren Pappkarton gestoßen.

In einer enormen technischen wie künstlerischen Leistung hat das Duo Messmer/Gröschner hieraus nun das beeindruckende Ausstellungsprojekt „Aus anderer Sicht. Die frühe Berliner Mauer“ realisiert. Der Fotograf Messmer schuf hierzu aus den über 1.500 Einzelnegativen durch digitale Bearbeitung 340 Panoramafotos. Dieser visuellen Montage verhalf die Autorin Gröschner zu einer narrativen Neukomposition, indem sie aus den Akten der Grenzprotokolle Zitate auswählte und verdichtete, die das damalige Geschehen im Niemandsland mit Leben füllen. Wenngleich die unbekannten Protagonisten der jeweiligen Szenerie nur vor dem inneren Auge des Betrachters in Aktion treten, ist diese textliche Anreicherung der eigentliche Clou der Exposition, deren Wirkung sich aber auch der Ausstellungsarchitektur von Annette Wilms verdankt, deren Stellwände den Betrachter in den Zustand des Eingemauertseins versetzen.

So wirken die sich hier aneinanderreihenden Panoramabilder aus sich ähnelnden Mauern, Zäunen und Kontrolltürmen wie die Bildstrecke eines schier endlosen Konzentrationslagers. Daß diese Assoziation naheliegt, zeigt auch die Aufnahme am Teltowkanal, wo ein Mann von West-Berliner Seite aus mit der Faust droht: „Ihr verfluchten KZ-Wächter. Vielleicht kommt es einmal anders, dann holen wir euch von den Türmen runter.“

Anrührend ist in diesem Zusammenhang auch die Geschichte von Wachhund Trux an der Puderstraße: „Wachhund Trux“, so die lakonische Bilduntertitelung, „beißt sich durch Maschen der Hundelaufanlage und fällt den auf einem Kontrollgang befindlichen Kommandeur und seinen Adjutanten an. Sie geben 12 Schuß ab, das Tier verendet.“ Der Betrachter denkt sich: Was sind Filmfiguren wie Lassie oder Polizeihund Rex gegen diesen tragischen Trux? So wie hier finden sich viele Geschichten, die sich im Auge des Besuchers entfalten.

Mit Genugtuung sieht der Betrachter die permanente Verhöhnung der DDR-Grenzer durch Zurufe aus dem Westen – diese erscheinen im Rückblick noch stärker, mußten die Henkersknechte ja ihre eigene Demütigung selber nochmal protokollieren, etwa als sie von vier West-Berliner Arbeitern am Spandauer Schiffahrtskanal aufgefordert wurden: „Links, zwei, drei, vier, ein Lied, ihr Hunde!“ Zwei Jugendliche am Heidekampgraben fragen: „Habt ihr denn keine Arbeit?“. Ein West-Berliner Polizist am Bethaniendamm kommentiert indes das absurde Auftreten der Grenzsoldaten: „Euch fällt die Friedenswacht wohl auch sehr schwer. Ihr bewegt euch wie die Halbstarken. Bei uns haben die lange Haare und ihr Uniform.“

Die Provokationen und Verächtlichmachungen der DDR-Grenzer sind zahlreich, daß diese Aufzählung fast endlos fortgesetzt werden könnte. Von fast philosophischer Anmut ist der kurze Lautsprecherruf aus dem Funkstreifenwagen von zwei Westberliner Polizisten an der Zimmerstraße: „Ihr Heimatlosen!“

Die Ausstellung „Aus anderer Sicht. Die frühe Berliner Mauer“ ist bis zum 3. Oktober, Unter den Linden 40 (2. OG), täglich von 10 bis 20 Uhr zu sehen. Telefon: 030 / 21 75 98 72

Der Katalog mit 752 Seiten und  552 Abbildungen (Hatje Cantz Verlag) kostet 49,80 Euro. www.aus-anderer-sicht.de

Foto: Berliner Mauer (1966): Zimmerstraße/Charlottenstraße (oben) und Lindenstraße/Kommandantenstraße

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