© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/11 / 16. September 2011

Das Weltkapital strömt nach Asien
Globalisierung: Erstmals  fließen mehr als die Hälfte der ausländischen Direktinvestitionen nach Asien / Spekulations- und Fluchtkapital sucht Anlagemöglichkeiten
Albrecht Rothacher

Lenin soll einmal gesagt haben, die Kapitalisten würden auch noch die Stricke verkaufen, an denen sie gehängt würden. Ob wahr oder nur gut erfunden, die Volkswirtschaften des Westens steigern nach der Weltwirtschaftskrise wieder massiv ihre Kapitalexporte in die konkurrierenden Schwellenländer – vor allem die Asiens.

Laut dem Jahresbericht der Unctad erhielten sie erstmals mehr als die Hälfte (52 Prozent) der ausländischen Direktinvestitionen der Welt. Unter den Empfängerländern lag China (plus Hongkong) mit 175 Milliarden Dollar nicht allzuweit hinter den USA (228 Milliarden Dollar) als dem klassischen Kapitalzielland. Zwar verbesserten sich die Direktinvestitionen nach Belgien (von 22 auf 48 Milliarden) und Deutschland (von acht auf 46 Milliarden), doch verminderten sich insgesamt die weltweiten Auslandsinvestitionen nach Europa um 19 Prozent auf insgesamt 313 Milliarden Dollar. Ursächlich sind der Konjunktureinbruch und die Finanzkrisen in Großbritannien und in Südeuropa. Umgekehrt sind die großen Herkunftsländer weiter die USA (329 Milliarden), Deutschland (105 Milliarden) und Frankreich (84 Milliarden). So betragen die Nettoabflüsse aus den USA 101 Milliarden Dollar, aus Deutschland 59 Milliarden Dollar und aus Frankreich 34 Milliarden Dollar, und dies allein 2010. Sie schaffen Arbeitsplätze zunächst einmal woanders.

Zu den größten deutschen Auslandsinvestoren zählt Volkswagen mit einem neuen Werk in den USA, der Technologiekonzern Thyssen-Krupp, der acht Milliarden Dollar in seine Stahlwerke in Brasilien und den USA steckte, der Arzneimittelhersteller Merck, der für 5,4 Milliarden das US-Unternehmen Millipore kaufte, der Energiekonzern Eon, der 2,8 Milliarden Euro in Rußland investierte, sowie die Deutsche Telekom und die Deutsche Post.

Bei den Schwellenland-Investitionen ist als neuer Trend sichtbar, daß sie weniger als früher der billigen Fertigung für den Export nach Europa dienen, als vielmehr der Erschließung der örtlichen Märkte. Häufig geschieht der Kapitalexport über Kredite der deutschen Mutterfirma an ihre asiatischen Töchter vor Ort. Dort bedient das einheimische Management dann die nationale Kundschaft zunehmend mit angepaßten Produkten, die weniger kompliziert und nicht so perfekt gebaut, aber dafür einfacher handhabbar, widerstandsfähiger und wesentlich billiger sind als das deutsche Original.

In Indien und China gibt es mittlerweile eine Milliarde Menschen, die die absolute Armut ihrer Eltern hinter sich gelassen haben, aber gleichzeitig noch nicht so wohlhabend sind, daß sie sich teure europäische Markenartikel oder Dienstleistungen leisten können. So gibt es bei Siemens jetzt Röntgengeräte, Computertomographen und Kraftwerksturbinen und bei Daimler eine komplette Modellserie von Lastwagen in der robusten Sparversion für Schwellenländer, die nach deutschen Vorlagen von einheimischen Ingenieuren für ihre Märkte und Bedürfnisse vereinfacht wurden.

Umgekehrt bereiten die Billigprodukte der asiatischen Konkurrenten für die verarmende Kundschaft in Europa und Nordamerika zunehmend Sorge. Das gilt für chinesische Autos ebenso wie für indische Generika-Arzneien, die für kostenbewußte deutsche Krankenkassen mittlerweile sehr attraktiv erscheinen, oder für asiatische Solarpanele, die die Hälfte des hochsubventionierten deutschen Marktes erobert haben.

Neben jenen produktiven Investitionen strömt seit Jahresfrist auch massiv Spekulations- und Fluchtkapital nach Asien. Um die von hohen Nahrungsmittel- und Energiepreisen ausgehende Inflation zu bekämpfen, haben die meisten asiatischen Zentralbanken die Zinsen erhöht. Dazu kommen die Flucht aus den desolaten westlichen Leitwährungen, dem Dollar und dem Euro, und der Anreiz, vom Aufwertungsdruck der Währungen Asiens zu profitieren. So werden die asiatischen Kapitalmärkte von Singapur und Bangkok bis Schanghai und Seoul derzeit mit Liquidität geflutet. Sie bildet auf der wilden Suche nach Anlagemöglichkeiten neue spekulative Blasen – auf der Suche nach vermeintlich sicheren Sachwerten vor allem im Immobilien- und Rohstoffsektor – und heizt damit weiter die Inflation an.

Gerade die rapide steigenden Preise für Nahrungsmittel und Kraftstoff bergen politischen Sprengstoff, sind doch die städtischen Unterschichten in rapide wachsenden Millionenmetropolen besonders hart betroffen. Da ihre aufgewerteten Landeswährungen die Exporte verteuern, sehen sie auch ihre industriellen Arbeitsplätze und Löhne in Gefahr. Angesichts des sichtbar wachsenden Reichtums der Oberschichten im Lande wachsen die sozialen Proteste – wilde Streiks in China oder Massendemonstrationen in Indien.

So verspüren China, Indien und die Länder Südostasiens intensive Wachstumsschmerzen und die USA und große Teile Europas die Pein des Muskelschrumpfens. Völlig unberührt dagegen bleibt Afrika. Trotz seines Rohstoffreichtums macht das Auslandskapital nach den Unctad-Zahlen, so es die Wahl hat, gleich ob aus Europa, Amerika oder Asien, angesichts der endemischen Mißwirtschaft, Korruption, der miesen Infrastruktur und Sicherheit und der verbreiteten Arbeitsunlust einen großen Bogen um den dunklen Kontinent. Das zeigt einmal mehr: Auslandsinvestitionen mögen nicht unproblematisch sein – vor allem nicht jene der spekulativen, unproduktiven Sorte. Doch ohne sie bewegt sich buchstäblich nichts. Und bei steigenden Bevölkerungszahlen wie in unserem südlichen Nachbarkontinent bedeutet Nichtentwicklung zunehmende Verelendung und bewirkt einen verstärkten Auswanderungsdruck.

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