© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/11 / 16. September 2011

Pankraz,
H. von Kleist und der geniale Kampfbär

Von den zum „Kleistjahr 2011“ (zweihundertster Todestag im November) erschienenen neuen Biogra­phien des großen Dramatikers und Novellisten hat Pankraz bisher nur eine ordentlich gelesen: „Heinrich von Kleist. Deutschlands unglücklichster Dichter“ von Hans-Jürgen Schmelzer (Hohenheim Verlag, Stuttgart und Leipzig, 254 Seiten, 19,90 Euro). Dabei interessierte ihn im Grunde weniger Kleist als vielmehr H.-J. Schmelzer (72), ein in vielen Fächern bewährter Oberstudienrat alter Schule und hochsensibler Verfasser von Künstlerbiographien, der eine ganz eigene und eigenartige Beziehung zu Kleist hat.

Schmelzer stammt aus Frankfurt an der Oder und ist der ahnenbewußte Sproß einer langen Reihe von bürgerlichen Gutsbesitzern und Domänenverwaltern, die seit Olims Zeiten im Oderbruch siedelten und sich eng mit dem dortigen Landadel verbanden, ohne doch je ganz dazuzugehören. Sie waren in der Regel berufstüchtiger und reicher als die Junker, welche ja meistens Militärs waren und ihre Güter oft nur „nebenbei“ bestellten. Pankraz wollte nun gern etwas über die spezifische Sicht eines solchen „bürgerlichen“ Gutsbesitzersohns und Großpädagogen auf das junkerliche Genie Heinrich von Kleist erfahren.

Seine Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Schmelzers Buch ist gänzlich frei von Professorenjargon und moderner Besserwisserei. Es beruft sich einige Male mit Dankbarkeit auf den großen Kleistforscher Helmut Sembdner (1914–1997), aber nach Stil und Aroma gehört es eher zu Theodor Fontane; man kann es ohne weiteres als einen Fortsetzungsband zu dessen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ lesen. Aus jeder Zeile spricht liebende Anteilnahme, ohne daß je die Grenzen der Diskretion und des guten Geschmacks mißachtet würden. Es ist ein in jeder Hinsicht feines, erquickliches Buch.

Um so eindrucksvoller, wie unendlich fremd und unzugehörig der Dichter im Kontext erscheint. Schmelzer bettet ihn ganz dicht in die zuständigen Familien- und Landschaftszusammenhänge ein, aber trotzdem – oder gerade deshalb – erscheint Heinrich von Kleist hier wie aus der Zeit und aus dem Leben herausgefallen: ein Nichtmitmacher aus Prinzip, ein Meteorit mitten in der brandenburgischen Kartoffelsteppe.

Alle Wege gesellschaftlichen Aufstiegs stehen ihm offen, er kann Karriere machen als Militär und Offizier, als Diplomat, als hoher Verwaltungsbeamter. Doch auf nichts läßt er sich ein, nirgendwo hält er es aus. Er studiert Mathematik, Experimentalphysik, transzendentale Philosophie – nur um sich hohnvoll und tief enttäuscht von alledem wieder abzuwenden. Nicht einmal ein Spieler will er sein.

Er nimmt das Leben ernst, furchtbar ernst, von frühester Jugend an und mit wachsendem Forscherzorn. Er unternimmt große, beschwerliche Reisen quer durch Europa. Eine Zeitlang versucht er, auf einem Anwesen am Thuner See in der Schweiz im Sinne Rousseaus als Gärtner und Landwirt „direkt mit der Natur“ zu leben. Dann wieder fordert er mit ersten eigenen Werken Goethe und Schiller in Weimar frontal heraus.

Schiller, der Klassiker, hatte verkündet, daß der Mensch „göttliche Freiheit“ gewinnen könne, nämlich im Spiel: Würde plus Anmut, Selbstreflexion plus Spontaneität. Kleist aber dementiert das, und zwar auf drastischste Weise. In seinem Aufsatz „Über das Marionettentheater“ preist er als Idealbild einer wirklich freien, mit wahrer Anmut und wahrer Würde agierenden Kreatur – ein Tier, einen Bären, einen fechtenden, in einen Wettkampf mit einem menschlichen Fechter verstrickten Bären.

Der Bär läßt sich durch keinerlei Finten des mit allen Wassern seiner Kunst gewaschenen menschlichen Fechters irremachen, pariert jeden seiner Stöße mit instinktiver, traumwandlerischer Sicherheit, weil er eben, wie Kleist schreibt, ein „unmittelbares“ Verhältnis zur Wirklichkeit hat, „ein Verhältnis Aug’ in Auge, als ob die Seele darin lesen könnte“. Der Mensch seinerseits, so Kleist, verfüge nicht mehr über diese „göttliche“ Spontaneität, diese „antigrave Schwerelosigkeit“, diese vis motrix, Schiller zum Trotz.

Kein selbstreflektierender Klassiker und Idealist reiche je an den Bären heran, allenfalls ein Sportler, ein Kämpfer, eine menschliche Kampfmaschine. Der Mensch, so die tiefinnere Überzeugung Kleists von Anfang an, muß, wenn er „göttlich“ werden will, zum Tier werden. Seine Tierhaftigkeit ist die Maske Gottes, und sie manifestiert sich einzig durch die Tat.

Jede Tat hinwiederum, gerade die Tat des Würdigen, ist blind, rational weder einsehbar noch kalkulierbar, und deshalb wird der würdige Täter von der Mit- und Umwelt nur als Tier wahrgenommen, das ist, nach Kleist, die tragische Situation par excellence. Der Täter gilt grundsätzlich als Ungeheuer, auch wenn er Gutes bewirkt, man dankt ihm nichts, aber wenn es schiefgeht, ist er und niemand sonst der Sündenbock.

Diese tragische Täter-Situation speist sämtliche Tragödien des Heinrich von Kleist und auch seine sogenannten „Komödien“, nicht zuletzt den „Zerbrochenen Krug“. Man denke, ein Richter richtet andere für eine Tat, die er selbst begangen hat! Nicht Schmelzer, sondern Robin Detje hat das kürzlich auf den treffenden Begriff gebracht, „Kleist ist immer auch Kolportage, Boulevard, Bild-Zeitung“, schrieb er, „es herrscht bei ihm ein einziges Stürzen, Wettern, Keilen, Fliegen, Retten, Entreißen, Drängen, Ersterben, Bäumen, Schäumen, Sieden, Jauchzen, Brausen. Mittlere Gefühlslagen kommen nicht vor.“

Genau so ist es. Heinrich von Kleist war ein Mensch ohne Mitte und Maß, ein Dämon der Destruktion, eine soziale Fatalität ohnegleichen. Literarisch, was also die Sprache betrifft, kann das zu gewaltigen Ausbrüchen und unerhörten Vollkommenheiten führen, wie das Werk des Sprachgenies Kleist beweist. Persönlich aber ist es immer eine Katastrophe: der Täter muß erkennen, daß ihm nicht zu helfen ist. Eben deshalb nennt der Biograph Schmelzer Kleist im Untertitel „Deutschlands unglücklichsten Dichter“, und er hat Mitleid mit ihm.

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