© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/11 / 16. September 2011

Kein Gespür für die Wahrheit
Libyen: Falsche Opferzahlen, falsche Landkarten, falsche Zusammenhänge – Viele Medien blamieren sich
Billy Six

Der französische Figaro berichtete von 10.000 Toten – allein in Tripolis. So weit sind deutsche Zeitungen dann doch nicht gegangen. Allerdings verbreiteten viele von ihnen Ende August fast übereinstimmend die Zahl von 2.000 Toten bei den Kämpfen um die libysche Hauptstadt. Es waren eher 400 Tote zu beklagen.

Da die westlichen Berichterstatter in Libyen immer nur für kurze Zeit anwesend sind, fehlt ihnen die Zeit, Feingefühl für gemeldete Unwahrheiten zu entwickeln. Überall im Orient liebt man die Übertreibung, aber in Libyen ganz besonders. Zum arabischen Redeschwall gesellt sich die 9. Koransure, wonach ohnehin kein Unterschied zwischen der Tötung eines und aller Menschen bestünde (Vers 32), sowie die Neigung, den Feind Gaddafi möglichst in Grund und Boden zu reden.

Nur so läßt sich erklären, daß der Focus am 30. August 2011 schon von 50.000 Menschen sprach, die seit Beginn der Februar-Revolte ums Leben gekommen seien. Mittlerweile hat auch Die Welt diese Angabe aufgegriffen. Sichtet jemand nüchtern die Fakten, besucht Krankenhäuser und Friedhöfe und legt glaubwürdige Zeugenberichte zueinander, dann fällt es allerdings schon schwer, überhaupt von 10.000 Toten auszugehen.

Am 13. Juni war es mir möglich, einer der Legendengeburten beizuwohnen – vor dem Krankenhaus des ostlibyschen Adschdabija. Der finster dreinblickende Arzt Suleiman Refadi teilte der Al-Djasira-Reporterin Sue Turton mit, daß Gaddafi-Truppen an der Front 25 Rebellen getötet hätten. Es wurde ungeprüft weiterverbreitet. Nicht nur von ihr.

Aber der Sender aus Katar führte von Beginn an eine Medienkampagne gegen die libysche Regierung. Ein Blick in die Akten des Krankenhauses jenes Tages offenbarte: Es waren nur drei Tote registriert. Und nicht nur das. Der wenig zugängliche Mediziner war es auch, der die Meldung von Viagra-Tabletten im Gepäck der Gaddafi-Loyalisten in die Welt gesetzt hatte. Angeblich hätten in seiner Stadt, aus der beinahe alle Zivilisten vor den Kämpfen vom März und April geflohen waren, Massenvergewaltigungen stattgefunden. Beweise konnte Refadi auf Nachfrage allerdings nicht vorlegen.

Daß Informationen aus dem für Jahrzehnte abgeriegelten Libyen zu Beginn des Aufstandes spärlich waren, ist verständlich. Daß die Berliner Zeitung aber selbst am 23. August noch immer eine falsche Landkarte Libyens abdruckte, ist dagegen schwer nachvollziehbar. Der größte Stamm der Warfallah ist hier im äußersten Osten eingezeichnet, in einem unbesiedelten Wüstengebiet. Stattdessen lebt der Klan etwa 1.200 Kilometer weiter nordwestlich. Auch die Familienverbände der Majabrah und Auwjillah liegen um etwa 500 Kilometer verkehrt. Beim Abdruck der Porträts dreier Mitglieder des Übergangsrates tags zuvor wurden dazu die Namen komplett vertauscht. Der Vorsitzende Mustafa Abdul Dschalil erhielt das Bild seines Sprechers Abdul Hafis Ghoga.

Am 31. August schrieb die Berliner Zeitung, Gaddafis Ehefrau Safija sei eine aus Bosnien stammende Kroatin. Das Märchen, offenbar ein Medienwitz vom Balkan, kursiert nun in immer mehr deutschen Zeitungen. Tatsächlich entstammt Safija Farkasch dem Barassi-Stamm aus der Gegend von Al Bayda in Ostlibyen.

Mohammed Gaddafi, dem ältesten Sohn Gaddafis, eine „Rolle in der ersten Reihe“ anzudichten, liegt ebenfalls fern jeder Realität. Tatsächlich floh der Chef des Nationalen Olympischen Komitees gerade deshalb mit Schwester und Mutter nach Algerien, da er wenig Interesse an einem Guerillakrieg um die Macht hat. Auch die Behauptung, Gaddafis Geheimdienst-Chef Abdullah Senussi sei Mitglied des Senussia-Klans, ist falsch. Der Schwager Gaddafis gehört den Magarha aus West-Libyen an. Die Senussia aus der Cyrenaika waren, anders als im Hintergrundbeitrag der Berliner Zeitung vom 23. August berichtet, nie am Regime beteiligt. Im Gegenteil: Sie stellten den König, der von Gaddafi 1969 weggeputscht worden war.

Interessant sind auch die in der Medienwelt ständig wiederkehrenden Meldungen, der vom Internationalen Strafgerichtshof gesuchte Abdullah Senussi al Megrahi wäre tot. Bereits am 21. Juli hatte es geheißen, er wäre in einem Hotel in Tripolis bei einem Attentat durch ein geheimes Rebellenkommando ums Leben gekommen. Am 21. August hieß es, Senussi habe bei einem Nato-Luftangriff den Tod gefunden. Am 31. August schrieben mehrere Zeitungen, er sei bei Gefechten südlich der Hauptstadt gefallen.

Die Serie von Falschmeldungen betrifft auch den immer wiederkehrenden Tod von Gaddafi-Sohn Khamies. Von der angeblichen Festnahme Saif al Islams und immer neuen Exil-Gerüchten für den Revolutionsführer selbst einmal ganz zu schweigen. Offenbar gibt es Kräfte, die sich von der Streuung solcher Lügen strategische Vorteile erhoffen – und deutsche Medien mischen munter mit. Das ändert nichts daran, daß die Freude großer Teile der Tripolitaner Bevölkerung über das Ende der Diktatur echt ist.

Foto: Kamerateam in Bengasi: Die westlichen Reporter – hier ZDF-Journalisten – waren immer nur kurz vor Ort

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