© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/11 / 16. September 2011

Der Skrupellose
Die US-Historikerin Catherine Epstein porträtiert mit Arthur Greiser, dem Gauleiter des Warthegaus, eine NS-Schlüsselfigur der Volkstums- und Rassepolitik
Markus Krämer

Am 21. Juli 1946, einem sonnigen Sonntagmorgen, versammelten sich etwa 15.000 Schaulustige auf dem Gelände der Zitadelle von Posen, um einer öffentlichen Erhängung beizuwohnen. Pünktlich um 7 Uhr hing Arthur Greiser am Galgen. Nach zwanzig Minuten wurde Greisers Körper vom Galgen genommen und im Ofen des Anatomischen Instituts der Medizinischen Akademie in Posen kremiert. Die Asche wurde an einem unbekannten Ort zerstreut.

Der Mann, der an diesem Tag exekutiert wurde, war zwei Jahre zuvor Gauleiter und Statthalter im „Reichsgau Wartheland“, verkürzt auch „Warthegau“ genannt, einem Teil des westlichen Polens, welches nach der Invasion vom September 1939 an das Deutsche Reich angegliedert worden war. In Deutschland ist heute außerhalb des Universitätsbetriebes nur wenigen dieser NS-Funktionär geläufig, in Polen gilt er – neben Generalgouverneur Hans Frank – bis heute als Symbolfigur der grausamen NS-Herrschaft im Zweiten Weltkrieg.

Vom Posener Hohenzollernschloß aus praktizierte er eine Germanisierungspolitik in der ehemaligen preußischen Provinz Posen, die nach 1939 um kongreßpolnische Gebiete erweitert, bis östlich von Łódź reichte, das in Litzmannstadt umbenannt wurde. Seine Politik im NS- „Mustergau“ proklamierte die Installation eines adminstrativen Führerstaates und die völkische Umgestaltung, bei der rücksichtslos polnische oder gar jüdische „Elemente“ zurückgedrängt und schließlich „beseitigt“ werden sollten.

In den USA hat nun die in Amherst (Massachusetts) lehrende Historikerin Catherine Epstein eine aufsehenerregende Biographie dieses „Model-Nazi“, so der Titel des Buches, veröffentlicht. Basierend auf umfangreichen, heute im Posener Archiv lagernden Beständen aus der Zeit des Reichsgaus sowie unerschlossenen Quellen, private Briefe eingeschlossen, und Interviews mit Greisers überlebenden Verwandten und früheren Mitarbeitern (hier vor allem sein hochbetagter Vetter und zeitweiliger Generalreferent, Harry Siegmund, welcher von 1945 bis 1950 unter falscher Identität lebte) präsentiert sie eine insgesamt ausgewogene, alle Winkel von Greisers Leben ausleuchtende Biographie. Epstein, die deutsch-jüdische Wurzeln hat, vermeidet die klischeehafte Zurschaustellung eines „Nazitäters“, sondern versucht das Phänomen zu beschreiben, das aus einem „normalen jungen Mann aus Deutschland“ einen erbarmungslosen Vertreibungspolitiker und einen grausamen Vollstrecker des Judenmordes werden ließ.

Greiser wurde 1897 in eine Mittelklassefamilie aus Schroda in der preußischen Provinz Posen geboren. Eine „Germaniserungspolitik“, die heute gern mit der Zeit Wilhelms II. in Verbindung gebracht wird, fand jedoch außer in einer kraftmeierisch proklamierten „Stärkung des Deutschtums“ des Deutschen Ostmarkenvereins und politischer Unterstützer an der Spree in der Realität kaum eine nachhaltige Entsprechung. Im Gegenteil wuchs durch strukturelle Entwicklungen wie Abwanderung und unterschiedliche Fertilität die polnische Bevölkerungsmehrheit von Jahr zu Jahr an, besonders im Osten der Provinz. Der nationale „Volkstumskampf“ zwischen Deutschen und den zudem in der sozialen Hierarchie oft niedriger stehenden Polen belastete jedoch die Atmosphäre in der Zeit von Greisers Kindheit zunehmend.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldete sich Greiser freiwillig und wurde schließlich Flugbeobachter und Kampfpilot im Jagdgeschwader Richthofen. Nach Jahren an der Front frustrierte ihn wie so viele nicht nur Deutschlands erniedrigende Niederlage im November 1918, sondern hinzu kam der polnische Aufstand im Dezember 1918, der zum Verlust seiner Heimatprovinz Posen für das Reich führte. Er meldete sich zum „Grenzschutz Ost“ und kämpfte bis 1921 in Freikorps im Baltikum und Oberschlesien. Danach faßte er als Handelsvertreter in Danzig Fuß, da seine Heimat nun zu Polen gehörte. Die in den neuen Westprovinzen unmittelbar einsetzende Unterdrückung der deutschen Minderheit radikalisierte Greiser. 1929 trat er der NSDAP in Danzig bei und machte rasch politisch Karriere. Nach dem Rücktritt von Hermann Rauschning als Senatspräsident der Freien Stadt Danzig wurde Greiser am 28. November 1934 sein Nachfolger und positionierte sich damit sogar noch über seinem innerparteilichen Widersacher, dem Danziger Gauleiter Albert Forster. Epstein schildert quellengesättigt die endlosen Querelen mit seinem lokalen Rivalen um die Macht im Freistaat und um die Gunst Hitlers.

Der aus Franken gebürtige Forster, an dessen Hochzeit 1934 Hitler sogar Trauzeuge war, konnte sich gegen den Ostdeutschen Greiser in Danzig letztlich durchsetzen. Nach dem Angriff auf Polen im September 1939 sollte doch noch Greisers Stunde schlagen. Bei Kriegsausbruch verlor Greiser zwar nach der Rückgliederung Danzigs ins Reich sein Amt. Auch den Posten eines Regierungspräsidenten in Köslin schlug er aus. Doch nach der sich schnell abzeichnenden Niederlage Polens wurde er von Hitler zunächst am 8. September 1939 zum Chef der Zivilverwaltung im Militärbezirk Posen ernannt – die Berufung zum Gauleiter im neu geschaffenen „Reichsgau Posen“, später „Warthegau“, folgte am 21. Oktober. Der in Schroda geborene Greiser sprach fließend Polnisch und galt insgesamt als moderat und verbindlich.

Mit den Insignien der Macht ausgestattet, ab dem 26. Oktober 1939 nannte sich der Gauleiter sogar „Reichsstatthalter“, sollte er seine Fähigkeiten als potentieller verständnisvoller Hegemon gegenüber der polnischen Mehrheit in seinem Herrschaftsgebiet ungenutzt lassen. Im Gegenteil: Wie nirgends sonst im Großdeutschen Reich sollte sich der Warthegau fortan zu einem völkischen und rassischen „Umvolkungslabor“ entwickeln. Da eine flächendeckende Vertreibung der ethnischen Polen allein aus kriegswirtschaftlichen Gründen bald stark reduziert und noch vor dem Angriff auf die Sowjetunion ganz aufgegeben werden mußte, versuchte man „Eindeutschungsfähige“ über die „Deutschen Volkslisten“ herauszufiltern.

Durch die Ansiedlung von „Volksdeutschen“ aus dem Baltikum oder Bessarabien sollten die etwa 400.000 vertriebenen Polen ersetzt werden, ebenso wie dadurch die Vertreibung von mehreren hunderttausend Deutschen nach 1919 kompensiert werden sollte, um den „deutschen Volkscharakter“ dieser Provinz herzustellen. Epstein beschreibt, inwieweit diese Umsiedlungspolitik von 500.000 Volksdeutschen wegen selbst aufgestellter „rassischer Kriterien“ auf massive Hindernisse traf, der sich die völkischen Schreibtischtäter um Greiser nicht bewußt waren.

Sollte die Germanisierung der über die alten preußischen Provinzgrenzen weit nach Zentralpolen ausgedehnten Provinz mit Greisers eigenem Schicksal vielleicht noch nachvollziehbar sein, fällt das bei der Verfolgung und Ermordung „rassisch Minderwertiger“ schwer. Epstein zeigt, daß nichts in Greisers Kindheit und Jugend seine konsequente Hinwendung zum Genozid an den Juden unabweisbar machte. Mit der Gründung des ersten großen Judenghettos in Litzmannstadt finden gleichzeitig in seinem Herrschaftsbereich große Zwangsarbeiterprogramme und die ersten Massenvergasungen von Juden im besetzten Europa, nämlich in Chełmno (Kulmhof) statt. Greiser scheute nicht davor zurück, dem ehemaligen Reichsjugendführer und Gauleiter Wiens, Baldur von Schirach, samt Entourage im Mai 1942 die Ermordung von Juden mittels Autoabgasen zu beschreiben, wie Epstein belegt.

Die Herrschaft Greisers hielt in dem vom Krieg weitgehend verschontem „Mustergau“ bis zum 12. Januar 1945, als die Rote Armee ihre Weichsel-Oder-Operation begann. Die Sowjets standen bereits nach einer Woche vor den Toren der zur Festung erklärten Gauhauptstadt Posen. Der Gauleiter flüchtete aufgrund eines ominösen „Führerbefehls“ mitsamt der Gauleitung in der Nacht vom 21. Januar 1945 kurz vor der Einschließung Posens nach Frankfurt an der Oder. Greiser, der nun vor aller Öffentlich als Feigling diskreditiert war, schob die Schuld auf Himmler und Bormann, die ihn durch mißverständliche Weisungen hintergangen hätten, um ihn „vor dem Führer unmöglich zu machen“.

Am 16. Mai 1945 wurde der flüchtende Greiser schließlich von einer US-Patrouille in den Bayerischen Alpen verhaftet. Knapp ein Jahr später, am 30. März 1946, erfolgte dann die Auslieferung als Kriegsverbrecher an Polen aufgrund des Alliierten Kontrollratsgesetzes Nr. 10 vom 20. Dezember 1945. Nach einem Zwischenaufenthalt gelangte er dann am 13. Juni 1946 nach Posen ins Gefängnis in der Mlynskiestraße. Zwischenzeitlich bereitete der oberste polnische Gerichtshof sein Verfahren vor, orientiert an den Prinzipien des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg.

Die Hauptanklagepunkte, in Anwesenheit des US-Konsuls Howard A. Bowman, amerikanischer, britischer und französischer Korrespondenten vorgebracht, warfen ihm die Teilnahme an der „Verfolgung und kompletten Ausrottung der polnischen Bürger jüdischer Rasse oder Abstammung“, die Germanisierung polnischer Kinder, die Tötung polnischer Geistlicher, Ausbeutung polnischer Arbeitskräfte und die Schließung aller polnischen kulturellen Institutionen vor. Der stark abgemagerte Greiser zeigte keinerlei Reue und weigerte sich, für die Vorwürfe die Verantwortung zu übernehmen. Er wurde schließlich in allen Anklagepunkten schuldig befunden, mit der Ausnahme, keine Morde persönlich verübt zu haben.

Epsteins wissenschaftliche Biographie hat sich erstmals – in deutscher Sprache gibt es keine Darstellung – diesem NS-Prototypen der völkischen und rassistischen Politik genähert. Dabei zeichnet sich keineswegs das Bild eines kranken Kriminellen mit dem vorsätzlichen Plan eines Völkermordes ab, sondern eher das eines sich im NS-Gefüge und unter den Bedingungen des Krieges radikalisierenden Ehrgeizlings. Um dann an verantwortlicher Stelle die mörderische Rasse- und Vernichtungspolitik umzusetzen, benötigte er letztlich nur die nötige Skrupellosigkeit. Arthur Greiser wählte diesen Weg in die Radikalität, die ihn nicht nur zu einem führenden NS-Funktionär und Territorialherren im angestrebten „Lebensraum im Osten“ werden ließ, sondern auch zum Mitorganisator des Massenmordes an den Juden und an der Vernichtung der polnischen Intelligenz.

Catherine Epstein: Model Nazi. Arthur Greiser and the Occupation of Western Poland. Oxford University Press, Oxfort 2010, gebunden, 433 Seiten, Abbildungen, etwa 38 Euro

Foto: Schwarzmeerdeutscher als millionster deutscher Siedler im Wartheland schildert vor Gauleiter Greiser seine Erlebnisse in der Sowjetunion (l.o.); Greiser 1937 mit Ehefrau (l.u.); als Gauleiter im Oktober 1939 in Posen (M.); beim Empfang in Warschau als Danziger Senatspräsident (2. v. r.) mit Polens Präsident Pilsudski (helle Uniform) und Außenminister Jozef Beck (3.v.r.): „Normaler junger Mann aus Deutschland“

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