© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/11 / 23. September 2011

Realpolitik
Zeit für Selbstkritik
Rolf Stolz

Bill Bonner, ein kluger amerikanischer Journalist, meint, der gesunde Menschenverstand sei heutzutage „durch ein Fenster entkommen“. Ich teile dieses Gefühl. Zwei Problemgruppen sind dafür verantwortlich: Jene, die es nicht so genau wissen wollen, und jene wenigen, die es besser wissen, aber zu ihrem eigenen Vorteil das Volk belügen und betrügen. Die einen benötigen zuallererst politische Aufklärung, Bildung, Erziehung. Die anderen benötigen eine Entziehungskur – einige Jahre ohne Zugriff auf die Schalthebel der Macht und das Versorgungskarussell.

Aber damit die große Not-Wende erreicht werden kann, müssen diejenigen, die für das Volk kämpfen, aus dem Abseits heraus. Wie aber soll das zu erreichen sein, wenn die Erzieher sich nicht selbst erziehen? Was viele aus unserem Lager nicht verstehen, sind zwei elementare Dinge: die Notwendigkeit der genauen Untersuchung und Differenzierung und die Notwendigkeit der Selbstkritik. „Gut gemeint“ ist das Gegenteil von Kunst und von guter Politik.

Wer Geschichte als Idealverlauf reinen Helden- und Schurkentums begreift, hat nichts begriffen. Die realen Gestalten und Ereignisse sind nun einmal widersprüchlich. Zwei kleine Beispiele: Der in den Rathenau-Mord verwickelte Ernst von Salomon, ein bedeutender konservativer Schriftsteller, landete nach 1945 beim Pazifismus und begründete die Deutsche Friedensunion (DFU) mit. Dem Sozialisten und Juden Bruno Kreisky verhalfen 1938 mit ihm im Dollfuß-Österreich inhaftierte Nationalsozialisten zur Flucht ins Exil. Die Geschichte ist eben voller Überraschungen.

Wer zu vereinfachten Schnellschüssen neigt, der „weiß“, daß in Libyen Freiheitskämpfer gegen Diktaturanhänger kämpfen, daß alle Chavez-Gegner in Venezuela lupenreine Demokraten sind. Aristoteles wird der großartige Satz zugeschrieben „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.“ Haben wir – die patriotisch-linken wie die patriotisch-rechten Demokraten dieses Landes – uns immer an diese Lebensmaxime jeder realen Politik gehalten, sind wir schuldlos an allen Mißerfolgen? Ist nicht die Voraussetzung des Sieges, die Niederlagen auf dem Weg dahin zu verstehen und ihre Ursachen zu korrigieren, die Balance zwischen den Flügeln zu halten und – statt wild zu flattern – mit beiden Flügeln zu fliegen und aufzusteigen?

 

Rolf Stolz war Mitbegründer der Grünen und lebt heute als Publizist in Köln.

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