© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/11 / 23. September 2011

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Beklemmendes Gefühl
Christian Vollradt

Die einen dürfen hinein, müssen aber warten. Die anderen wollen hinein, dürfen aber nicht, weil ihnen das dafür erforderliche Stück Papier fehlt. Ein bißchen ist es an diesem trüben, windigen Berliner Nachmittag wie früher vor dem „Tränenpalast“ zwischen Spreekanal und Bahnhof Friedrichstraße. Während diesseits der Absperrung der Troß aus Journalisten, Fotografen und Kameraleuten routinemäßig auf die Ankunft der Bundeskanzlerin wartet, müssen alle anderen Neugierigen hinter den
Gittern bleiben. „Wir – die Opfer – werden nicht eingeladen“, empört sich eine ältere Dame: „So viele habe ich hier verabschieden müssen!“ Ort ihrer Sehnsucht ist ein verglaster Bau aus dem Jahr 1962, in dem die Bundeskanzlerin gemeinsam mit Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) sowie geladenen Ehrengästen am Mittwoch vergangener Woche die Dauerausstellung „GrenzErfahrung“ eingeweiht hat. In dem lichtdurchfluteten Raum mußten sich bis 1989 alle, die die DDR verlassen wollten – meistens Touristen aus dem Westen –, einer eingehenden Kontrolle durch die „bewaffneten Organe“ unterziehen. Die Bürger des östlichen Teilstaates dagegen durften ohne Genehmigung das Gebäude nicht betreten und mußten ihren Besuch davor verabschieden – daher der Name „Tränenpalast“.

Wer als Zeitzeuge selbst noch die Grenzabfertigung des Arbeiter- und Bauernstaates erleben durfte, den holt beim Blick in die originalgetreuen Kontrollboxen das beklemmende Gefühl von damals wieder ein: wenn man einzeln in den engen Schlauch hineingehen mußte, argwöhnisch beäugt vom erhöht sitzenden Grenzer, der einem außerdem noch mittels Spiegel in den Nacken starrte. Der Resopal-Charme feiert hier sowie in den vielen anderen Exponaten fröhliche Urständ, und insofern ist die historische Rekonstruktion durchaus gelungen.

Die Kanzlerin, die sich üblicherweise nicht gerade emotionsgeladen äußert, zeigt sich bei diesem Pflichttermin durchaus berührt: „Ich persönlich war hier sehr oft mit meinen Eltern, und wir haben Jahr für Jahr meine Großmutter verabschiedet, die dann immer älter wurde. Da hatte man Angst und fragte sich: Siehst du sie wieder? Gibt es überhaupt ein Wiedersehen im nächsten Jahr? Das war schon sehr, sehr traurig.“ Auch sei sie auf ihrem täglichen Weg zur Arbeit auf dem Ost-S-Bahnsteig der Friedrichstraße immer mit der Wand konfrontiert worden, die diese vom West-S-Bahnsteig abschirmte: „Dann hörte man immer das Bellen von Hunden, mit denen damals Kontrollen stattfanden. So hatte man also morgens auf dem Weg zur Arbeit schon die erste Erfahrung mit der innerdeutschen Grenze und dieser unmenschlichen Teilung in Deutschland.“

Ob dies wirklich die täglichen Gedanken der jungen Angela Merkel waren? Da nun aber mit oder ohne ihr Zutun Mauer und Todesstreifen Geschichte sind, steht seit vergangener Woche der Tränenpalast (außer montags) allen kostenlos offen – als Gedenkstätte für den Alltag der deutschen Teilung. Auch der älteren Dame, die zur Eröffnung nicht eingeladen war.

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