© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/11 / 23. September 2011
Zwischen Reichstag und Kanzleramt Die einen dürfen hinein, müssen aber warten. Die
anderen wollen hinein, dürfen aber nicht, weil ihnen das dafür erforderliche
Stück Papier fehlt. Ein bißchen ist es an diesem trüben, windigen Berliner
Nachmittag wie früher vor dem „Tränenpalast“ zwischen Spreekanal und Bahnhof
Friedrichstraße. Während diesseits der Absperrung der Troß aus Journalisten,
Fotografen und Kameraleuten routinemäßig auf die Ankunft der Bundeskanzlerin
wartet, müssen alle anderen Neugierigen hinter den Wer als Zeitzeuge selbst noch die Grenzabfertigung des Arbeiter- und Bauernstaates erleben durfte, den holt beim Blick in die originalgetreuen Kontrollboxen das beklemmende Gefühl von damals wieder ein: wenn man einzeln in den engen Schlauch hineingehen mußte, argwöhnisch beäugt vom erhöht sitzenden Grenzer, der einem außerdem noch mittels Spiegel in den Nacken starrte. Der Resopal-Charme feiert hier sowie in den vielen anderen Exponaten fröhliche Urständ, und insofern ist die historische Rekonstruktion durchaus gelungen. Die Kanzlerin, die sich üblicherweise nicht gerade emotionsgeladen äußert, zeigt sich bei diesem Pflichttermin durchaus berührt: „Ich persönlich war hier sehr oft mit meinen Eltern, und wir haben Jahr für Jahr meine Großmutter verabschiedet, die dann immer älter wurde. Da hatte man Angst und fragte sich: Siehst du sie wieder? Gibt es überhaupt ein Wiedersehen im nächsten Jahr? Das war schon sehr, sehr traurig.“ Auch sei sie auf ihrem täglichen Weg zur Arbeit auf dem Ost-S-Bahnsteig der Friedrichstraße immer mit der Wand konfrontiert worden, die diese vom West-S-Bahnsteig abschirmte: „Dann hörte man immer das Bellen von Hunden, mit denen damals Kontrollen stattfanden. So hatte man also morgens auf dem Weg zur Arbeit schon die erste Erfahrung mit der innerdeutschen Grenze und dieser unmenschlichen Teilung in Deutschland.“ Ob dies wirklich die täglichen Gedanken der jungen Angela Merkel waren? Da nun aber mit oder ohne ihr Zutun Mauer und Todesstreifen Geschichte sind, steht seit vergangener Woche der Tränenpalast (außer montags) allen kostenlos offen – als Gedenkstätte für den Alltag der deutschen Teilung. Auch der älteren Dame, die zur Eröffnung nicht eingeladen war. |