© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/11 / 23. September 2011

Übermut am Bosporus
Türkei: Mit gezielter Eskalation und diplomatischem Werben pro_ liert sich Ankara als neue Ordnungsmacht
Günther Deschner

Säbelrasseln gegenüber Israel und Zypern, harte Worte in Richung Assads Syrien, Bomberangriffe gegen die PKK im Nordirak, Werbungsversuche in Kairo, Tunis und Tripolis: Wer beobachtet, wie selbstsicher und fordernd der türkische Regierungschef Erdoğan gegenüber Staaten und Politikern in der direkten oder weiteren Nachbarschaft der Türkei auftritt, wie anmaßend Staatspräsident Gül jüngst in Deutschland Kopfnoten verteilt, dem wird klar, wie lange es her ist, daß man das Türkenreich als den „kranken Mann am Bosporus“ verspottete. Eineinhalb Jahrhunderte nachdem der russische Zar Nikolaus I. diesen Spruch über das schwächelnde Osmanenreich prägte, liegt einem das genaue Gegenteil auf der Zunge. Heute kann die Türkei, seit nunmehr acht Jahren von Sultan Erdoğan regiert, vor Kraft kaum noch gehen. Seit Jahren hat das Land ein Wirtschaftswachstum, von dem man in der EU nur träumen kann, es unterhält die zahlenmäßig zweitstärksten Streitkräfte in der Nato und nutzt seine strategisch bedeutsame Lage zwischen Europa, Arabien und Asien zielstrebig zu eigenem Wachstum.

Mit ihrem dynamischen Wirtschaftsaufschwung könnte die Türkei schon in diesem Jahrzehnt das am schnellsten wachsende Land der Welt nach China und Indien sein. Daß sie laut einer Studie des Londoner Economist bis 2050 sogar zur zehntgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen könnte, hängt auch mit der demographischen Entwicklung zusammen. Das Durchschnittsalter beträgt nur 27 Jahre gegenüber einem Durchschnitt von über 40 Jahren in der EU. Bis 2050 soll es 100 Millionen Türken geben. Damit – sollte es zum EU-Beitritt kommen – würde das Land mit Abstand die größte Bevölkerung aufweisen.

Doch der Traum vom EU-Beitritt ist längst verblaßt. Wie aus einer Umfrage des German Marshall-Fund hervorgeht, unterstützen heute nur noch 38 Prozent der Türken einen EU-Beitritt. Vor fünf Jahren waren es noch 73 Prozent. Erdoğan hat in den vergangenen Jahren denn auch zusehends weniger Anstrengungen unternommen, um Brüssel zu gefallen, das Thema EU ist aus der öffentlichen Debatte praktisch verschwunden.

Im Juni dieses Jahres mit einer dritten Amtszeit ausgestattet, plant Erdoğan Großes. Ein ehrgeiziges Entwicklungsprogramm soll die Türkei bis zum Jubiläumsjahr 2023 – dem hundertsten Jahr seit der Gründung der Republik durch Atatürk – zur hochentwickelten Industrienation machen. Zu hause dürfte Erdoğan also derzeit unangreifbar sein. Kein Wunder, denn selbst die Armee hat der Premier in seinen Einflußbereich gebracht. Mehrere türkische Generäle sitzen unter Putschverdacht im Gefängnis.

Die Konsolidierung von Erdoğans Stellung als nationaler Führer geht Hand in Hand mit einer offensiven Außenpolitik, die in jüngster Zeit für eine umstrittene internationale Prominenz der Türkei gesorgt, gleichzeitig aber auch dazu geführt hat, daß die Türkei sich von einem bloßen Bündnispartner zu einem – regionalen – Akteur „in eigener Sache“ gewandelt hat. Nichts geht im Nahen Osten, in Nordafrika und in Teilen Zentralasiens ohne die Mitwirkung der Türkei.

Mit seiner plakativen „Reviermarkierung“ in den Ländern des „arabischen Frühlings“ hat der türkische Ministerpräsident vergangene Woche deutlich gemacht, daß die Türkei den Umbruch mitgestalten will. Er war der erste Regierungschef, der nach den epochalen Umbrüchen mit großer Entourage nach Ägypten und Tunesien reiste. In Libyen kamen ihm fürs erste Sarkozy und Cameron um 24 Stunden zuvor

Erdoğan ließ sich von seinen wichtigsten Ressortministern begleiten – allen voran Ahmed Davutoğlu, der Außenminister. Er ist der Architekt der neuen türkischen Außenpolitik. Sie begreift die geostrategische Position der Türkei zwischen Europa, Kaukasus und Nahost als besondere Chance. Davutoğlu spricht vom Konzept der „Strategischen Tiefe“, doch de facto geht es um Handel, Wirtschaft, Rohstoffe und türkische Macht. Entsprechend will die Türkei den Umbruch in den angrenzenden arabischen Staaten mitgestalten – und politisch und vor allem wirtschaftlich davon profitieren.

Ankara hat das Potential zur Ordnungsmacht in der Region. Je mehr sie gebraucht wird, desto mächtiger kann die Türkei als aufstrebende Regionalmacht werden. Als solche will sie auch von ihren Nachbarn akzeptiert werden – und Erdoğan reagiert zunehmend gereizt, wenn er dies nicht ausreichend gewürdigt sieht. Das betrifft derzeit vor allem die langjährige Partnerschaft mit Israel.

Es war ironischerweise die Demokratisierung der Türkei, die sie zunichte machte. Denn das Sonderverhältnis mit Tel Aviv war eine Sache des herrschenden türkischen Militärs, nicht des Volks. Und das will nicht darüber hinwegsehen, wie Israel mit den Palästinensern, den Glaubensbrüdern, umgeht. Für Tayyip Erdoğan ist es deswegen ein leichtes, mit seiner antiisraelischen Haltung Politik und Stimmen zu machen. Er mag so gesehen ein Opportunist sein – doch ein Mann ohne Prinzipien ist er nicht. Im Gegenteil: Erdoğan pocht auf Ehre und Vertrauen. 2008 fühlte er sich vom damaligen israelischen Premier Ehud Olmert hintergangen, der ihn bei einem Besuch im Glauben ließ, er unterstütze die Vermittlungsbemühungen der Türkei mit Syrien. Eine Woche später begann das Gaza-Bombardement. Auch als jetzt eine Entschuldigung für den Sturm auf die Mavi Marmara ausblieb, fühlte sich Erdoğan ein weiteres Mal tief in seiner türkischen Ehre gekränkt. „Wir haben einen Punkt erreicht“, erklärt Außenminister Davutoğlu, „an dem Israel alle Angebote ausgeschlagen hat. Nun ist es an der Zeit, daß die israelische Regierung einen Preis dafür bezahlt – den Verlust der türkischen Freundschaft.“

Die gezielte Eskalation im Streit um Gasvorkommen hat allerdings vor allem wirtschaftliche Gründe. Erdoğan droht dem EU-Mitglied Zypern mit militärischer Intervention, falls es weiter Probebohrungen im Mittelmeer vornimmt. Hintergrund ist die Entdeckung eines ergiebigen Gasfeldes 135 Kilometer westlich von Haifa innerhalb des Seegebietes, das Israel als seine Wirtschaftszone betrachtet. Die Lagerstätten sind aber so gigantisch, daß sie sich über das gesamte „Levante-Becken“ erstrecken, dessen Anrainer Zypern, Syrien, Libanon und Israel sind. Der Umfang der Reserven wird auf 3,5 Billionen Kubikmeter förderbares Gas geschätzt, äquivalent zu 20 Milliarden Barrel Öl. Israel hat bereits für alle Gebiete vor der Küste Explorationslizenzen vergeben. Libanon protestiert, Ägypten ist in Sorge, daß seine Ansprüche verletzt werden. Nur mit Zypern konnte sich Israel über eine Aufteilung des Seegebietes arrangieren. Die Türkei sperrt sich, weil die „türkisch-zypriotischen Rechte“ nicht berücksichtigt sind, und droht mit der Entsendung von Kriegsschiffen.

Foto: Premier Erdoğan und der Chef des libyschen Übergangsrates M. A. Dschalil in Tripolis: Den türkischen Geist in den arabischen Frühling tragen

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