© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/11 / 23. September 2011

Uncle Sam in Nöten
Kampf um die Weltmeere: Während der Westen, und allen voran die USA, ihre Flotten abbauen, rüsten sich China, Indien und Rußland für die Zukunft
Klaus Gröbig

Die Seestreitkräfte der USA, die US-Navy, besitzen die kampfkräftigste Marine der Welt. Sie verfügt über 287 Schiffe. Auf den ersten Blick erscheint die Zahl imponierend. Aber hält sie einer näheren Betrachtung stand? Von den 287 Schiffen sind lediglich 112 Überwasserkampfschiffe (Kreuzer, Zerstörer und Fregatten), 11 Flugzeugträger und nochmals 71 U-Boote. Der Rest sind Nachschubschiffe, Landungsschiffe, Minensucher oder andere Hilfsschiffe. Mit anderen Worten: Ein Drittel der Flotte taugt gar nicht für die eigentliche Seekriegsführung.

Die Navy ist weit von dem entfernt, was 1981 der damalige US-Präsident Ronald Reagan postulierte und auch realisierte: eine 600-Einheiten-Flotte. Vor der Regierungsübernahme durch Reagan hatte die friedensbewegte Carter- Administration sich sogar geweigert, den Neubau eines Flugzeugträgers in Auftrag zu geben, den das besorgte Parlament bewilligt hatte. In der Folge der finanziellen Belastungen des Vietnamkrieges war die US-Navy von 1.000 auf nur noch 400 Einheiten geschrumpft.

Dabei war die Lage zur See Ende der 1970er Jahre für den Westen schon fast aussichtslos. Die Sowjetunion verfügte damals über 443 U-Boote. Admiral Karl Dönitz hatte nur 300 gefordert, um den Nachschub über den Atlantik blockieren zu können. Im Falle eines Angriffs aus dem Osten hätte sich Westeuropa nur dann halten können, wenn Truppen- und Materialverstärkung über den Atlantik eingetroffen wären. Dazu kamen sowjetischerseits vier kleinere Flugzeugträger, zwei Hubschrauberträger, 40 Kreuzer, 82 Zerstörer, 200 Fregatten sowie 118 Korvetten und zahllose Kleinkampfeinheiten vom Raketen- bis zum Patrouillenboot, die das Küstenvorfeld des Warschauer Paktes zu einer wahren „No-go-Area“ für die Nato gemacht hätten. Reagan bildete sich nicht etwa ein, mit seinem Flottenbauprogramm zahlenmäßige Parität herstellen zu können. Sein Optimismus gründete sich auf drei Faktoren. Die maßgeblichen Verbündeten der USA müßten ihre Anstrengungen gleichfalls verstärken. Tatsächlich bat er nicht vergebens. François Mitterand und Margaret Thatcher verstärkten ihre Seestreitkräfte.

Zweitens baute Reagan auf die Überlegenheit der US-Flugzeugträger, denen die Sowjetmarine nichts Gleichwertiges entgegensetzen konnte. Reagan vermehrte in seiner Amtszeit die Zahl der Trägergruppen von 12 auf 15. Erst 1986 wurde mit der Indienststellung der „Theodore Roosevelt“ dieses Ziel erreicht. Schließlich baute der US- Präsident darauf, daß die Qualität und Kampfkraft der westlichen Schiffe denen der Sowjets überlegen sein würde.

Heute hat sich die Lage grundlegend gewandelt. Reagans Nachfolger haben sein Erbe verspielt und die Navy gezwungen, weitgehend aus ihrer vorhandenen Substanz heraus zu „leben“. Dafür unternehmen drei Mächte Anstrengungen, die US-Dominanz zur See zu brechen. Nach dem Schlendrian der Jelzin-Ära konsolidiert sich die russische Marine auf niedrigem Niveau. Indien baut seine Marine aus. Die Bedeutung der indischen Seemacht ist bereits heute größer als nur die einer dominierenden Regionalmacht. China, der dritte im Bunde, hat seinen militärischen Aufstieg langfristig vorbereitet.

Alle drei Mächte bauen nicht nur U-Boote und Überwasserkampfschiffe, sondern auch Flugzeugträger. Indien besitzt die Viraat (vormalig die britische HMS Hermes), hat die Vikramaditya – die ehemalige Admiral Gorschkow – von Rußland angekauft (geplante Indienststellung 2012) und baut an zwei neuen Trägern, die 2015 und 2017 in Dienst gestellt werden sollen. China hat mit der Probefahrt der Shilang (Ex-Varjag (russ.) für Aufsehen gesorgt und plant wie Rußland (zwei) den Bau von bis zu vier weiteren Flugzeugträgern.

Damit würde sich in nicht allzu ferner Zeit einer der Überlegenheitsfaktoren aus der Reagan-Zeit relativieren. Wenn Rußland, China und Indien auch unterschiedliche Einzelinteressen haben mögen, in einem sind sie sich wohl einig: Sie wollen sich machtpolitisch nicht von Uncle Sam auf der Nase herumtanzen lassen. Im sogenannten Shanghai-Club suchen sie auch nach Gemeinsamkeiten.

Doch nicht nur die Zahl der Schiffe der US-Navy ist unzureichend. Es stellt sich zudem die Frage, ob man die „richtigen“ Schiffe besitzt. Seltsam an dem derzeitigen Flottenbestand mutet die vergleichsweise große Zahl von Landungsschiffen an. Auf ihnen sind mehrere 10.000 Marineinfanteristen mit Artillerie und Panzern untergebracht. In der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges glaubte man in Washington, die eigene Seeherrschaft würde für alle Zeiten fortbestehen und es wäre möglich, eigene Marineinfanterie an den Küsten fremder Völker anzulanden, um dort den Willen der USA durchzusetzen und Rohstoffe günstig in Besitz zu nehmen. Dies könnte der eigentliche Hintergrund für die Aktionen gegen Afghanistan, den Irak und nun Libyen sein. Wehe aber, wenn die mit Truppen vollgestopften Landungsschiffe in ein Seegefecht verwickelt werden. Wenn beispielsweise U-Boote die Logistik zusammenschießen.

Es sind aber auch andere Merkwürdigkeiten am derzeitigen Schiffsbestand der US-Navy zu beobachten. Einer neuen Bedrohung durch einen potentiellen Gegner, der über eine starke U-Boot-Flotte verfügt, wäre die Navy weitgehend hilflos ausgeliefert. Laut „Weyers Flottentaschenbuch Ausgabe 1988/89“ verfügte die US-Navy damals über 115 Fregatten – Schwerpunkt U-Boot-Jagd. Davon sind zur Zeit ganze 30 geblieben. Der Rest ist verschrottet oder an „zuverlässige“ Verbündete wie Pakistan, Ägypten, die Türkei oder Polen abgegeben worden. Einen Ersatz hat es dafür nicht gegeben. Auch die Kategorie Zerstörer – primär für Luftabwehr, aber auch zur U-Boot-Jagd geeignet – ist seit 1989 zusammengeschrumpft. 69 Zerstörer standen damals in der Flottenliste zu Buche, heute nur noch 60.

Der Verweis auf die offene U-Boot- Flanke der US-Navy ist keineswegs aus der Luft gegriffen. Die neue Bedrohung ist konkret. Die letzten Tendenzen in der Rüstungsentwicklung weisen darauf hin. China besitzt bereits heute über 60 U-Boote, die konsolidierte russische Flotte verfügt über knapp 70 und Indien besitzt heute 17 Boote. Das Land erhält sich durch Lieferungen aus Rußland, Frankreich und Deutschland gerade auf dem Feld des U-Boot-Baus seine Unabhängigkeit. Hinzu kommen Länder wie Venezuela, Vietnam, Iran oder Algerien, die nicht gerade als Freunde der USA gelten können. Sie rüsten maritim kontinuierlich auf.

Zugegeben, auch andere Flotten haben zahlenmäßige Reduzierungen erfahren. Aber das betraf meist die Verbündeten der US-Navy. Besonders schlimm kam die britische Royal Navy unter die Räder, die vermutlich bis 2020 auf einen eigenen Flugzeugträger verzichten muß. Frankreich hingegen bemüht sich um die Erhaltung des Flottenkerns – nur teilweise mit Erfolg.

Ein besonders trauriger Einzelfall ist die niederländische Marine, die zur Zeit des kalten Krieges 24 moderne U-Jagdfregatten besaß, die samt und sonders liquidiert wurden. Heute besitzt die Flotte von Königin Beatrix zwei große Landungsschiffe und vier Zerstörer, deren Marschflugkörper fremde Küsten erreichen können. Deutschland erwarb als Ersatz für zwanzig veraltete Aufklärer acht gebrauchte niederländische Aufklärungsflugzeuge. Der Bundesrechnungshof beanstandete zu Recht, daß diese Flugzeuge nicht einmal – wie ihre Vorgänger – mit U-Jagd-Torpedos ausgerüstet sind.

Gänzlich verschwunden von den Weltmeeren ist die sowjetrussische Flotte. Eine Folge der Regierungszeit des im Westen hoch geschätzten „Reformers“ Boris Jelzin ist ein Flottentorso. Aber die russische Flotte konsolidiert sich – auf niedrigem Niveau. Ambitionierte Neubauprojekte sollen realisiert werden. Dies ist möglich, weil Präsident Wladimir Putin die Bodenschätze des Landes dem Zugriff von „Investoren“ entzog. Die Bodenschätze des Landes kommen diesem wieder zugute.

Japan – zwar noch ein Verbündeter der USA – vermehrt seine maritimen Fähigkeiten. Aber auch sonst in Asien wird viel für den Ausbau der Seestreitkräfte getan. Südkorea, Vietnam, Indonesien, Malaysia, aber vor allem Indien und China zeigen, daß sie entschlossen sind, den Dreizack Neptuns, den Uncle Sam im Pazifik locker läßt, ergreifen zu wollen. Einem starken Ausbau der US-Navy wie zu Reagans Zeiten steht die Haushaltslage der USA entgegen. Die meisten Schulden hat das Land der unbegrenzten Möglichkeiten bei – China. Abgesehen davon scheint die Obama-Administration – wie bereits zuvor George W. Bush – keine Einsicht in die Notwendigkeiten zu zeigen. Beide hatten und haben wenig Interesse an den Seestreitkräften. Immerhin veranlaßte George W. Bush die Benennung eines Flugzeugträgers nach seinem Vater.

In der Summe bedeutet dies, daß die USA vermutlich noch eine ganze Weile eine Flotte „second to none“ besitzen werden, aber die Tage, an denen sie zu jeder Zeit an jedem Ort einsetzbar ist, sind gezählt.

Foto: Versenkung der USS Oriskany im Golf von Mexiko (2006): Von den 28 US-Flugzeugträgern, die noch Ende der 1960er Jahre auf den Weltmeeren kreuzten, sind ganze 11 übriggeblieben

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