© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/11 / 23. September 2011

Der Flaneur
Wer ist dein Meister?
Josef Gottfried

Wer ist dein Meister?“ fragt mich das Wesen. Ich verstehe die Frage nicht, schaue es für eine Sekunde an, dann blicke ich stur geradeaus, gehe weiter den Bordstein entlang. „Wer ist dein …“, setzt es wieder an, jetzt ungeduldiger, unterbricht sich dann aber selbst. Es scheint sich daran zu erinnern, daß es ein seltsames Wesen ist. Das jedenfalls meine ich aus dem Augenwinkel in seinen Gesichtszügen zu lesen. Aber ich bin mir nicht sicher. In der Mimik eines Hundes oder einer Katze meint man ja auch allerlei zu entdecken.

So geht es einige Meter an meiner Seite, ohne ein Wort zu verlieren. Die Situation kommt mir surreal vor. Beim Gehen schaue ich mich heimlich um. Ist jemand in der Nähe, mit dem ich einen vielsagenden Blick tauschen könnte? Es ist früh, Mittwoch, am Ende der Straße hieven Müllmänner die Tonnen auf ihren orangenen Lkw. Doch sie stehen mit dem Rücken zu uns und werden dieses Wesens nicht gewahr. Es ist so seltsam, neben ihm herzuschlendern.

„Wer ist dein Meister?“ fragt es mich erneut und zieht, im Gehen, mit seiner linken Hand an meinem rechten Ärmel. Als ich wortlos weiterschreite, schüttelt es still mit dem Kopf. Ich blicke nur aus dem Augenwinkel zu ihm rüber, mehr Mut ist nicht drin. Dann kommt ein sehr gepflegter VW Passat, zehn Jahre alt, Breitreifen, gute Felgen, Tribal-Aufkleber auf der getönten Heckscheibe, „OSL“ auf dem Kennzeichen.

Kurz bevor der Wagen unsere Höhe erreicht, reduziert er auf Schrittgeschwindigkeit. Fahrer und Beifahrerin starren mit offenen Mündern zu uns rüber. Sie trägt ein Lippenpiercing, ihre Modefrisur hat zwei Haarfarben. Seine Haare sind kurz, er ist muskulös und trägt eine schwere Weißgoldpanzerkette. Ich schaue sie an, mache ein dummes Gesicht und zucke mit den Schultern. Er schaltet in den ersten Gang und fährt weiter.

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