© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/11 / 30. September 2011

Wir werden schon unten ankommen
Auf dem Weg zum Niedriglohnkontinent: Politikwissenschaftler deuten die Euro-Krise als finales neoliberales Systemfiasko
Clemens Möller

In einem Punkt sind sich Angela Merkel und die meisten wirtschaftswissenschaftlichen Kritiker der Kanzlerin einig: „die Krise“ ist nicht mit einem Schlag zu beenden. Und zwar nicht deshalb, weil man Griechenland wegen des horriblen Dominoeffekts nicht einfach über Nacht aus der Euro-Zone kicken könnte. Sondern deshalb, weil die Staatsverschuldung einer bedeutungslosen Volkswirtschaft am Rande Europas nur wenig mit der eigentlichen Dimension der Krise zu tun hat. Griechenland zur Drachme zurückkehren zu lassen, würde an der Eskalation einer Systemkrise nichts ändern, am Kollaps des Kapitalismus in seiner brutalsten, seiner neoliberalen Erscheinungsform.

Die Kollegen, die der habilitierte Finanzwissenschaftler Ulrich Busch eingeladen hat, ihre Analysen zur vielschichtigen und komplexen Materie der im Herbst 2008 offen ausgebrochenen „großen Krise“ der internationalen Finanzwirtschaft vorzulegen, zählen nicht zur Elite deutscher Ökonomen. Und sie publizieren ihre Beiträge in einem nach der Wende 1989 gegründeten Sozial- und geisteswissenschaftlichen Journal (Heft 2-2011), das mit dem schrägen Haupttitel Berliner Debatte Initial ein Sprachrohr mitteldeutscher Intellektueller und ursprünglich auch abgewickelter „Kader“ der Akademie der Wissenschaften der DDR ist. Ein Organ mit manifesten weltanschaulichen Positionen, allerdings unorthodox aufgelockert.

Es erstaunt daher nicht, beim ersten Blättern auf Rezepturen zu stoßen, die neomarxistischen Ladenhütern der Kapitalismuskritik ähneln. Ein Eindruck, der sich dank Buschs unglücklich formuliertem Themenschwerpunkt „Globale Sparwut“ noch verfestigt.

Dabei beschränken sich staatssozialistisch klingende Polemiken gegen „überzogene“ Sparpolitik zur Bewältigung der westlichen „Schuldenkrise“ auf drei Beiträge von Jürgen Leibiger (Dresden), von Klaus Müller (Chemnitz), der einen Ausfall gegen die „neoliberale Sparneurose“ wagt, und von Karl Betz (FH Südwestfalen) mit seinem moderaten Plädoyer für einen sozialverträglichen Schuldenabbau. Auch Müller will der Staatsschuld nicht huldigen wie der omnipräsente Keynesianer Heiner Flassbeck, Lafontaine-Weggefährte und unter ihm 1998 bis 1999 kurzzeitiger Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Er verweist aber auf Heilmittel, die in der neoklassischen Lehre wie an Angela Merkels Kabinettstisch als Teufelszeug gelten. Die „Steuerleistung der Reichen“ sinke seit 2007 in obszöner Weise.

Würden in Deutschland, so schlußfolgert Müller, Vermögen und Einkommen so rigoros besteuert wie in Frankreich, dann flössen jedes Jahr 66 Milliarden Euro mehr ins Staatssäckel. Ferner seien vor jeder die unteren und mittleren Schichten treffenden Sparmaßnahme Ausgabenkürzungen an der „richtigen Stelle“ ins Auge zu fassen. „Richtig“ heißt für Müller: Auslandseinsätze der Bundeswehr beenden, Bürokratie abbauen, staatliche Verwaltungen verschlanken. Geld ohne Ende ströme in die Kassen des Fiskus, entschlösse man sich endlich zur Anhebung von Spitzensteuersatz und Körperschaftssteuer, zur Besteuerung nicht reinvestierter Gewinne und Finanztransaktionen.

Bis zu achtzig Milliarden Euro jährlich wären einzutreiben, wenn Wolfgang Schäuble Steuerhinterziehern und Steuerflüchtlingen genauer auf die Finger schaute. Karl Betz fordert hierfür die personelle Aufstockung der Steuerfahndung und eine härtere strafrechtliche Sanktionierung von Steuerdelikten. Betz sieht eine der Ursachen der Finanzkrise in der unterschiedlichen steuerlichen Behandlung von Fremd- und Eigenkapital, die Prämien auf das Schuldenmachen gewähre. Im übrigen biete sich noch eine ganze Palette von Steuererhöhungen an, die „sowieso“ fällig würden, etwa zwecks Erhöhung der Kosten CO2-intensiver Stromproduktion. Solche – politisch nicht durchsetzbaren – Therapien zur Sanierung des bundesdeutschen Haushalts implizieren die naive Hoffnung, deren Resultate könnten europäische oder gar weltwirtschaftliche Effekte zeitigen.

Diese Hoffnung lassen Leidigers ausgreifende wirtschaftshistorische Herleitung des gegenwärtigen globalen Desasters wie die Analyse der Erfurter Volkswirtin Ulrike Schenk, die sich der finanziellen Malaise der Europäischen Währungsunion widmet, zuschanden werden. Für Leidinger ist die neoliberale Agenda der Reaganomics und des Thatcherismus (Steuersenkung plus etatistischer Sparkurs lassen automatisch die Staatseinnahmen steigen), die Otto Graf Lambsdorff 1982 mit seinem „Wendepapier“ in die Bundesrepublik importierte, heute definitiv und irreparabel gescheitert.

Dieser Kurs habe lediglich die Macht internationaler Konzerne verfestigt und damit jenes internationale Finanzsystem etabliert, das heute als Krise in Permanenz nach Abwicklung verlange. Nie sei das Scheitern marktradikaler Verheißungen mit ihrem „Privatisierungs-, Deregulierungs- und Umverteilungswahn“ deutlicher zutage getreten als in der „jüngsten Weltwirtschaftskrise“.

Mit der europäischen Variante des globalen neoliberalen Fiaskos beschäftigt sich Ulrike Schenk. Sie stellt zunächst einmal fest, daß der Aufbruch der Lemminge, der Zusammenschluß von Nationalstaaten mit fest verankerten politischen, kulturellen und ökonomischen Identitäten zu einem gemeinsamen Währungsraum, noch der „historischen Aufarbeitung harrt“. Ohne weitere Aufklärung erkennbar sei hingegen, daß der Euro keine neue Identität geschaffen habe, sondern die nationalen Gegensätze und ökonomischen Diskrepanzen unter dem brüchigen Dach einer einheitlichen Geld- und Währungspolitik „dramatisch zugenommen“ hätten. Der Euro spalte die EU.

Das 2000 proklamierte Ziel der EU-Staatschefs, in Europa bis 2010 den wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu schaffen, hat sich mittlerweile als große Illusion entpuppt. Mit dem Euro sei die genau entgegengesetzte Richtung eingeschlagen worden. Europa befinde sich auf einem Pfad, der „vermutlich“ in den nächsten Jahrzehnten abwärts führe, auf das Niveau eines „Niedriglohnkontinents und Zulieferers für neue aufstrebende Wirtschaftsmächte“.

www.berlinerdebatte.de

Foto: Objektspringer stürzen sich vom Kjerag-Felsplateau am norwegischen Lyse-Fjord östlich von Stavanger in die Tiefe: Europa befindet sich auf einem Pfad, der vermutlich in den nächsten Jahrzehnten abwärts führt

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