© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/11 / 30. September 2011

Wiedervereinigt in den Untergang
Vor 750 Jahren überwand Byzanz mehrere Jahrzehnte der Teilung / Kraft gegen das vitale Osmanische Reich erwuchs daraus nicht
Menno Aden

Am 12. April 1204 erstürmten französische und venezianische Kreuzfahrer im 4. Kreuzzug Konstantinopel und plünderten es aus. Wie zuvor von den künftigen Siegern vereinbart, wurden Reich und Hauptstadt aufgeteilt. In Konstantinopel wurde eine Fremdherrschaft unter dem Namen Lateinisches Kaiserreich eingerichtet. Der frei gebliebene Teil des Reiches setzte als griechisches Kaiserreich von Nicäa die Tradition des ungeteilten Reiches fort.

Zwei Generationen später, im Jahr 1261, wurde das Byzantinische Reich wiedervereinigt. Auch wenn sich Geschichte nie wiederholt, sind doch Ähnlichkeiten mit der deutschen Teilung und Wiedervereinigung auffallend, die Bundesrepublik Deutschland nahm dabei eine Entwicklung wie das Reich von Nicäa. Nach dieser Logik ist es reizvoll, sich der Frage zu nähern, ob unserem seit zwanzig Jahren wiedervereinigten Vaterland nicht ein ähnliches Schicksal bevorstehen könnte wie dem wiedervereinigten Byzanz.

Nicäa wurde Sitz der Regierung des freien Reichsteils. Die Kleinstadt war allerdings keine Konkurrenz zu Konstantinopel, das die wahre Hauptstadt blieb. Das Reich von Nicäa nahm einen überraschenden Aufschwung. Zahlreiche wohltätige Einrichtungen entstanden. Kirchenneubauten schmückten das Land. Ein klares Militärkonzept sicherte, soweit es die Zeiten zuließen, Freiheit und Wohlfahrt. Besondere Aufmerksamkeit galt der robusten Wirtschaft und den soliden Staatsfinanzen. Das Teilreich erlebte eine Blüte, die an die besten Zeiten des Gesamtreiches erinnerte.

Das Lateinische Reich in Konstantinopel kam dagegen immer weiter herunter. Die Beziehungen zwischen den Reichsteilen waren frostig bis feindlich. Sie wurden aber, vergleichbar mit unserem Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR von 1972 im Sinne gegenseitiger Duldung geregelt. Das Ziel der Wiedervereinigung war in Nicäa niemals aus den Augen geraten. Es war auch diplomatisch vorbereitet worden. Aber am Ende wurde gar nicht die Hohe Kunst der Diplomatie genutzt. Mit überraschender Leichtigkeit wurde die Wiedervereinigung 1261 erreicht, als ein beherzter Heerführer zugriff und das Lateinische Kaiserreich fiel kampflos in sich zusammen. Als der Kaiser des griechischen Kaiserreiches, Michael VIII., am 15. August 1261 in die Hauptstadt einzog, geriet die Begeisterung zur religiösen Kundgebung. Der Kaiser begab sich zu Fuß zu den wichtigsten Stätten der wiedergewonnenen Hauptstadt. Der Jubel war unbeschreiblich.

Der lateinische Reichsteil wurde durch die Besatzungsmacht Venedig geplündert und mit Tributen ausgebeutet. Geldnot hatte den Kaiser gezwungen, ins Ausland zu verkaufen, was nur immer verkäuflich war. Die Hauptstadt verfiel. Die Kirchen standen leer, ihrer Schätze beraubt. Der Wiederaufbau verschlang Riesensummen. Das Reich, nun wieder als Kaiserreich von Byzanz, wurde wieder regionale Großmacht. Aber die wiedergewonnene Machtstellung bürdete dem Reich über die Aufbaukosten hinaus neue Lasten auf. Die ehemaligen Feinde im Westen drohten mit den alten Koalitionen, den Serben und Bulgaren. Nun entstand auch im Osten die fast vergessene türkische Gefahr in neuer, aber nicht mehr nachlassender Wucht. Die Kräfte des Reiches erschöpften sich rasch. Das bald überschuldete Reich sparte, und zwar vor allem dort, wo es am populärsten war, beim Militär. Die eigene Bevölkerung war zum Waffendienst nicht mehr bereit. Freiwillige zur Verteidigung der Heimat fanden sich wenige. Truppen mit Söldnern aus fremden Ländern traten an die Stelle des eigenen Heeres, welches einst Stolz und Stärke des Reiches war. Die Streitmacht von Byzanz war nach den Zeugnisssen von Zeitgenossen „zum Lachen“.

Die weiter folgenden Schritte werden von Historikern unter dem Begriff Feudalisierung gefaßt. Der seit dem 7. Jahrhundert gepflegte bäuerliche Mittelstand verfiel unter immer höheren Steuerlasten und suchte sein Heil darin, unter den Schirm von Großunternehmen zu schlüpfen. Steuerausfälle waren die Folge, denen der Staat mit immer brutaleren Beitreibungsmaßnahmen entgegenzuwirken versuchte. Dagegen behalfen sich viele oft nur mit Korruption.

Dramatisch war der Ansehensverlust der byzantinischen Währung. In die Währung von Nicäa, die Leitwährung der Region, hatten die Handelspartner unbeschränktes Vertrauen gehabt. Nach der Wiedervereinigung drangen neue, verderbte Münzen vor. Inflation, Preissteigerungen und letztlich Verarmung waren die Folge. Die Regierung griff zu Steuererhöhungen, die Belastung stieg, damit stieg die Verarmung der Bevölkerung; es entstand ein Teufelskreis. Der Mediävist Georg Ostrogorsky faßte in seinem Standardwerk zusammen: „Es kann kein Zweifel sein, daß die Restauration von 1261 den Staat erheblich geschwächt hat.“

Wenige Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung konnte das Reich sich nicht mehr mit eigener Kraft gegen die immer weiter ausgreifenden Türkenheere wehren. Das Reich geriet von zwei Seiten in die Zange, wurde von Kleinasien vertrieben und versuchte schließlich, die übriggebliebene Enklave am Goldenen Horn inmitten des aufstrebenden Osmanischen Reichs durch immer höhere Mauern zu schützen. Diese gaben dann 1453 nach, als der türkische Sultan in Konstantinopel einritt und die Hagia Sophia, die älteste Kirche der Christenheit, zur Moschee machte.

Foto: Einzug der Kreuzritter in Konstantinopel 1204, Gemälde von Gustave Doré (1832–83): Teilung folgte der totalen Niederlage

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