© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/11 / 07. Oktober 2011

Mit Wagner in den Weltuntergang
Apokalyptischer Spleen: In dem Film „Melancholia“ thematisiert Lars von Trier seine Depressionen
Sebastian Hennig

Die Melancholie galt einst als selbstverschuldete Sünde. Die Renaissance verschaffte ihr ein Ansehen als der eigentlichen Disposition des schöpferischen Menschen. Albrecht Dürer hat in seinem düsteren Kupferstich die „Melancholia“ zu einem heraldischen Bild verdichtet: Eine Nachdenklichkeit, welche die höchste Geistesblüte, aber zugleich auch das größtmögliche Zerwürfnis des Menschen mit sich und seinem Schöpfer begründet.

In ihrer turbulenten Zuspitzung zur Verzweiflung taucht die Schwermut in barocken Darstellungen der Laster auf: Ein irrsinniges Weib mit verzerrtem Antlitz zerfleischt sich mit dem Schwert die eigene Brust. Als „Krankheit zum Tode“ beschrieb Kierkegaard später dieses selbstverantwortete Heraustreten aus der göttlichen Gnade. Ob Krankheitsgeißel oder Häresie, universale Traurigkeit lastet wie eine schwere Seuche überall dort auf der Welt, wo die Menschen nicht mehr durch handgreifliche Nöte von sich abgelenkt werden. Nicht in Arbeit und Gebet, sondern in Zerstreuung und Berauschung wird dann wider besseres Wissen Zuflucht gesucht. So praktiziert es auch die äußerlich erfolgreiche, junge und schöne Justine (Kirsten Dunst) in Lars von Triers „Melancholia“.

Das Beste an diesem Film, der eigentlich eine ziemlich leicht überschaubare Geschichte erzählt, ist die Aufhebung der Kontinuität der Handlung. Damit wird dem Betrachter die verheerende Weitsichtigkeit und Doppeldeutigkeit des Melancholikers in einer homöopathischen Dosis zuteil. Das beginnt mit der Einführung, die Lars von Trier nicht nur mit dem Tristan-Vorspiel von Richard Wagner begleitet, sondern auch szenisch wie eine Opernouvertüre entwickelt. Alle wesentlichen Motive der Auflösung werden in einer zauberhaft visionären Leinwandmalerei vorweggenommen. Die Bäume im Schloßpark werfen doppelte Schatten, verursacht vom Lebenslicht der Sonne und der Todesstrahlung des nahenden Planeten Melancholia.

Die Bedeutung dieser Rätselbilder erschließt sich erst im Rückblick. Während der Zuschauer am Schluß hinter den Figuren kauernd dem vernichtenden Aufprall entgegensieht, schaute er während der Ouvertüre unbeteiligt aus der Loge dem Weltuntergang zu. Ausschließlich Wagners fieberhafteste Musik bietet den Soundtrack zum Liebestod von Terra und Melancholia. Trier dazu: „Es war für mich immer von entscheidender Bedeutung, daß hier nicht zwei Planeten aufeinanderprallen, sondern daß Melancholia die Erde verschlingt.“

Die eröffnende Szene der Filmhandlung ist ein Capriccio. Das Satyrspiel wird diesmal vor der Tragödie aufgeführt. In einer Stretchlimousine navigiert sich das Brautpaar unter Mühen und mit Lackschäden den windungsreichen Weg zum Anwesen der Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg) und ihres Mannes John (Kiefer Sutherland) hinan. Die Stimmung ist ausgelassen. Es herrscht ein heiteres, stilles Einverständnis.

Erst nach und nach wird deutlich, daß hier eine tapfere junge Frau für diese Fassung Sorge trägt. Die Depressive versucht sich selbst und alle anderen mit gespielter Heiterkeit zu bestechen. Aber sie hält nicht durch. „Ich lächle, lächle, lächle“, wird sie später entgegenhalten, wenn die Erpressungen zum Glücklichsein unerträglich werden, welche die High Society ihr von allen Seiten zumutet. Justine redet von einem grauen wolligen Garn, das an ihren Beinen klebt, ohne daß sie die Kraft hätte, es weiter mitzuschleppen. Wie der Fluch einer bösen Fee zerfleddern die bitteren Auslassungen der Brautmutter (Charlotte Rampling) beim Hochzeitsbankett die Fassade.

Justine bricht im Nachbarraum in sich zusammen. Als sie den Kopf hebt, erblickt sie in den Regalen aufgeschlagene Kunstbände mit konstruktivistischen Etüden. Die wirken wie ein höhnischer Tanz. Fieberhaft reißt sie Bücher aus dem Regal, schlägt Seiten mit Reproduktionen alter Meister auf und bedeckt die Trostlosigkeiten mit den Weltbildern von Brueghel, Caravaggio und Holbein. Seinen Zuschauern erspart der Regisseur dieses Mal vergleichbare Schocks. Dafür wird Schwindelfreiheit vorausgesetzt angesichts der Ekapaden der Handkamera, welche die künstliche Realität der Massenszenen im Innenraum einfängt. Diese ambulante Skizzenbuchoptik ist ästhetisch höchst plausibel, stellt aber eine visuelle Strapaze dar.

Für Justine beginnt ein Interregnum tiefster Depression, als am Morgen danach ihr letzter Selbstüberredungsversuch zum Leben als gescheitert hinter ihr liegt. Eine neue Macht weckt sie aus der Apathie. Und sie scheint in dem Maße aufzuleben, in dem die Erde in den Schatten ihres unumkehrbaren Untergangs eintritt. Voll Todesfreude bietet sie sich nächtens entblößt dem kühlen Licht Melancholias. Trier dazu: „… letztlich gelingt es ihr, den Planeten hinter der Sonne hervorzuziehen und sich ihm völlig zu ergeben.“

Claires Vorschlag, den unausweichlichen letzten Augenblick als eine Party auf der Terrasse zu begehen, wird von Justine brüsk zurückgewiesen. Es muß ihr die vorangegangene Heiterkeit ebenso frivol erschienen sein, wie ihrer zweckoptimistischen Schwester jetzt Justines zunehmende Entspannung. Eine solche ergreift auch die umgebende Natur. In der Lichtdämmerung des sich nähernden Giganten ertönen die Singvögel wie an einem Maimorgen. Die Pferde, die tagelang scheuten, sind zuletzt ganz ruhig geworden. Über das im Ganzen ästhetisch ungewöhnlich glatte Endergebnis war der Regisseur zuletzt fast erschrocken: „…wie Schlagsahne an Schlagsahne. Ein Frauenfilm! Ich möchte diesen Film abstoßen wie ein Körper ein falsch implantiertes Organ. (…) Ich bin verwirrt und plage mich mit Schuldgefühlen. Was habe ich nur getan?“

Ob der Mensch mit sieben Milliarden Artgenossen verschwindet oder allein einer ihm gleichgültig gewordenen Welt abhanden kommt, macht für Justine nur insofern einen Unterschied, als sie darauf besteht, daß das Leben auf der Erde eine schlechte Sache ist, die ein Ende finden muß. Aber die „Tante Stahlbrecher“ kümmert sich auch um ein würdevolles Ende für ihren Neffen, indem sie mit ihm eine „Zauberhütte“ baut, in der zuletzt alle drei gemeinsam in unterschiedlicher Stimmungslage der Transformation entgegengehen: der Knabe als gespannter Abenteurer, seine Mutter in aufgelöster Verzweiflung und deren Schwester hingegeben an das Nichts. Lieber dem Nichts ergeben, als einem falschen Götzen von Menschenhand und Menschenverstand.

Fotos: Claire (Charlotte Gainsbourg) und ihr Mann John (Kiefer Sutherland) verfolgen den Lauf des Planeten Melancholia: „Ich lächle“; Justine (Kirsten Dunst): Die Depressive flieht von ihrer eigenen Hochzeit – doch die Wurzeln der Bäume greifen nach ihr und halten sie fest

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