© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/11 / 07. Oktober 2011

Die Schöpferkraft der Alten
Folgen des demographischen Wandels für den Wissenschaftsbetrieb / Streit um „Plastizität des Geistes“
Patrick König

Demographisches Allgemeinwissen beweist man heute mit drei magischen Zahlen: 80, 50, 20. Sie beschreiben die deutsche Gesellschaftsgeschichte seit Bismarcks Entlassung 1890. Bei 80 Jahren liegt derzeit die durchschnittliche Lebenserwartung (Frauen: 82, Männer: 77). Das ist innerhalb eines Jahrhunderts ein geradezu märchenhafter Gewinn. Denn unsere Urgroßeltern erreichten im Durchschnitt nur ihren 50. Geburtstag.

Bis Mitte dieses Jahrhunderts dürfte der medizinische Fortschritt in Verbindung mit gesünderer Lebens- und Ernährungsweise die Lebenserwartung in der westlichen Welt sogar noch weiter nach oben schrauben. Dann ist aber zugleich der Anteil der jungen Menschen (bis 20 Jahre) an der Gesamtbevölkerung von aktuell schon beängstigenden 20 Prozent weiter geschrumpft.

Der aus dem Sudetenland stammende Berliner Sozialhistoriker Jürgen Kocka hängt an diesen drei Zahlen das von Demographen, Gerontologen, Sozialmedizinern und Gesundheitspolitikern mit zunehmender Intensität beschworene Szenario des „verkehrten“ Altersaufbaus unserer Gesellschaft auf. Es werde bald von „davonlaufenden Gesundheitskosten, Finanzierungsproblemen des Sozialstaats“, neuen Generationskonflikten zwischen Erwerbstätigen und Ruheständlern und der „drohenden Verlangsamung der ökonomischen und kulturellen Dynamik“ geprägt sein (Gegenworte – Hefte für den Disput über Wissen, 25/11).

Kocka kennt sich mit der Thematik aus. Unter seiner Leitung hat eine interdisziplinäre „Akademiegruppe Altern in Deutschland“ eine Lageanalyse erstellt und im März 2009 ihre Ergebnisse und Empfehlungen dem damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler überreicht. Für Gegenworte, die Zeitschrift der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, wählt er aus der Masse der demographischen Probleme die Frage nach den Folgen, die eine „Gesellschaft des langen Lebens“ für eine nur scheinbare Randgruppe, nämlich für seinesgleichen, Wissenschaftler und Hochschullehrer, zeitigen könnte.

Gemessen an der Gesamtbevölkerung prozentual zwar zu vernachlässigen, entscheidet doch deren Fähigkeit, die Ressource Wissen sozial nutzbar zu machen, die Zukunft von Industriegesellschaften. Von entsprechender Bedeutung ist daher, wie lange sie vom Humankapital dieser typischen „Leistungsträger“ profitieren wollen. Für ein Maximum an Wissensabschöpfung stehen dabei die USA und Kanada. Dank der Antidiskriminierungsjudikatur (Affirmative Action ist mehr als eine Rassenquote) gibt es dort seit 1994 auch keine allgemeine Pensionierungspflichtgrenze mehr.

Der US-Wissenschaftler darf also forschend und lehrend in den Sielen sterben, während sein deutscher Kollege in der Regel mit 65 in den Ruhestand gehen muß. Kocka meint, die deutsche Regelung trage besser biologischen Gesetzen Rechnung. Wenn ihm auch, mit Rücksicht auf seit dem Jahr 2000 wieder steil anziehende Erwerbstätigkeitsquoten in der Gruppe der 60- bis 64jährigen Männer, eine flexiblere Lösung „in Richtung 70“ vorschwebt. Die deutsche Ruhestandsgrenze sieht er durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse gerechtfertigt. Denn die „Plastizität des Geistes“, Innovationskraft und Kreativität, nehme im Normalfall im Alter ab. Zumindest Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner hätten ihre produktivste Phase zwischen 25 und 45. Nur bei Geisteswissenschaftlern falle die Leistungskurve danach nicht ab. Hier seien Höchstleistungen im fortgeschrittenen Alter sogar häufig.

Bekannte Biographien, der 26jährige Albert Einstein, der die spezielle Relativitätstheorie kreierte, der 29jährige Charles Darwin, der die Grundlagen der Evolutionslehre schuf, Kohorten mathematischer und physikalischer Genies der Weltmarke Werner Heisenberg, die Äonen vor Erfindung des Juniorprofessors mit Ende 20 Lehrstühle eroberten, könnten tatsächlich für Kockas Plädoyer einer nur moderaten gesellschaftlichen Ausbeutung von Altersweisheit sprechen. Und erst recht jene Schreckensmeldung der National Institutes of Health (NIH) in Maryland, der zufolge die seit 1994 kräftig verschobene Altersstruktur im US-Wissenschaftsbetrieb ab 2020 „das Tempo der medizinischen Innovationen“ verlangsamen werde.

Was anfangs „Altersdiskriminierung“ beseitigte und zudem volkswirtschaftlich effizient zu sein schien, gefährdet nun langfristig das wissenschaftliche Innovationspotential und damit die Wettbewerbsfähigkeit der USA. Kockas auf den ersten Blick bestechende Argumentation steht und fällt jedoch mit seinem neurowissenschaftlichen Unterbau. Und den erschüttern ein paar Seiten weiter Peter Weingart (Institut für Wissenschafts- und Technikforschung/Uni Bielefeld) und Matthias Winterhager (Bielefeld), Fachmann für bibliometrische Analyse primär naturwissenschaftlicher Publikationen.

Angelehnt an den Utrechter Sozial- und Gesundheitspsychologen Wolfgang Stroebe rekurrieren sie auf eine „gute Nachricht“ aus der Kognitionsforschung. Danach gebe es „keinen universellen altersbezogenen Rückgang der kognitiven Fähigkeiten“. Stroebe habe herausgefunden, daß „praktisch kein Produktivitätsunterschied zwischen den Altersgruppen“ bestehe. Damit sei die Angst, Überalterung beeinträchtige die wissenschaftlich-wirtschaftliche Innovationskraft, unbegründet.

Die „Schöpferkraft der Alten“ müßte mithin auch in Deutschland nicht länger durch „widersinnige Pensionsregeln“ vergeudet werden, sondern sollte sich zum Wohl der Allgemeinheit entfalten. Doch dies ist nicht das letzte Wort der beiden Bielefelder. Der schönen neuen Welt altersgrenzenlosen Forschens steht die Eigenart wissenschaftlichen Wissens entgegen. Pro Tag erscheinen weltweit bis zu 50.000 Veröffentlichungen allein in den Natur- und Technikwissenschaften. Verbleiben nun betagte Forscher künftig in diesem Produktionsprozeß, vermehre sich wahrscheinlich allein die Zahl der Arbeiten mit extrem knappem Haltbarkeitsdatum. Es steige unweigerlich die „Obsoleszenzrate“, die Masse rasch obsolet werdenden Wissens.

Weingart und Winterhager trauen auch der „Schöpferkraft der Alten“ nicht zu, aus diesem Dilemma zu entkommen. Gewiß ist ihnen nur, daß Plagiieren kein individueller Ausweg ist. Es beschleunige nur die Obsoleszenz – „vor allem wenn es entdeckt wird“.

Foto: Disput um Forscher: Überalterung als Gefahr für das wissenschaftliche Innovationspotential und damit die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit?

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