© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Der Flaneur
Am Gleisende
Josef Gottfried

Obwohl es draußen weit über 20 Grad sind, pustet die Heizung warme Luft ins Abteil. An irgendeinem kleinen Bahnhof irgendwo in Sachsen-Anhalt wartet ein Intercity auf die Signale, und wir warten in ihm. Das Wesen hat seine Hand auf meinem Knie und lehnt sich an. „Verletzte auf den Gleisen“, teilen sich andere Passagiere wissend mit. „Wissend“, weil jedem klar sein muß, daß dort ein Toter liegt, der uns zum Warten zwingt.

Ich schwitze und habe nichts mehr vor für heute. Darum ist es so, als ob die Zeit steht. Niemand von uns wird älter, einige schnattern, andere starren aus dem Fenster. Es ist, als ob alles voll von trauriger Klaviermusik wäre, der Himmel so blau, da vorne liegt der Tote, und ich starre ins Land – meine Stirn an der Scheibe. Da vorne liegt der Tote, die Geschichte eines Lebens, erzählt von zerrissenem Fleisch.

Im Leib gebundene Jahrzehnte zwingen uns zum Warten, neunzig Minuten vielleicht. Wir Passagiere, also Jahrhunderte von Leben, Millionen von Geschichten und Plänen, wir wissen genau, daß die Verkehrswege bald wieder gangbar sein werden. Und wirklich: Dann fahren wir an ihnen vorbei, ein paar Schutzpolizisten und Feuerwehrleute, ein abgelöster Lokführer, der mit seiner Hand im Gesicht im Gras hockt, neben ihm der Notfallseelsorger, eine tröstende Hand auf seiner Schulter.

Putzkräfte der Bahn plaudern neben den Gleisen, der Lautsprecher bietet uns mit blecherner Stimme eine Entschädigung für die Verspätung an, ein Freigetränk. Vermutlich wird es bis zum nächsten Tag dauern, bis die Deutsche Bahn mit all den verspäteten Folgezügen wieder im Zeitplan ist. Als wir an dem Ort vorbeifahren, liegt dort wirklich eine dunkelgraue Plane, und darunter schaut wirklich der Griff eines dunkelbraunen Spazierstocks hervor. Alles voll von trauriger Klaviermusik.

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