© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Keine Altersmilde gegenüber der „mentalen Weltherrschaft“
Mit seinem Buch „Späte Reflexionen“ setzt der 88jährige Historiker Ernst Nolte den Schlußpunkt unter sein Lebenswerk und kreist um sein altes großes Geschichtsthema, den Weltbürgerkrieg
Thorsten Hinz

Der Titel verspricht eine lockere, assoziative und subjektive Schreibweise. Das heißt nicht, daß sich Nolte einen milden Rückblick auf seine Gegner und die mit ihnen geschlagenen Schlachten gestatten würde. Im Gegenteil, er nutzt die freie Form, um alte Fragestellungen aufzunehmen, zuzuspitzen und auf ihre Aktualität hinzuweisen. Gewöhnlich bezieht Noltes Prosa ihre suggestive Kraft aus der abwägenden Argumentation.

Die „Reflexionen“ hingegen sind eindeutig bis zur sprachlichen und politischen Rücksichtslosigkeit. Das kann Stoff bieten für handfeste Skandalisierungen – oder für eine anspruchsvolle Lektüre. Die erfordert eine gewisse Vertrautheit mit der Begriffs- und Gedankenwelt des Autors. Ist diese Voraussetzung erfüllt, dann eröffnet sie Ausblicke auf geschichts- und geisteswissenschaftliche Kontroversen von morgen.

Über 25 Jahre nach dem Historikerstreit bilanziert Nolte, daß er in Deutschland „fast vollständig isoliert“ sei. Seine Kaltstellung objektiviert er als Reflex eines politisch-geistigen Interregnums, dessen Spielregeln ihn höchstens noch als Gegenstand der Analyse interessieren. Stets habe er Hitler als Vollzieher eines „großen Unrechts“ beschrieben, ihn der historischen Verliererseite zugerechnet und „moralisch aufs stärkste verurteilt“, schreibt Nolte. Seine Todsünde aber sei es gewesen, ihm auch ein „kleines Recht“ zugebilligt zu haben.

Hitlers historische Schuld sieht er im Versuch, den Fortschrittsprozeß aufzuhalten, indem er die als seine Hauptträger identifizierten Juden vernichtete. Diese „metabiologische“ Qualität gibt dem Holocaust seinen singulären Charakter. Das „kleine Recht“ Hitlers indes lag in dem Widerstand gegen die egalitäre Strukturlosigkeit, der sowohl die westlich-liberale wie die bolschewistische Fortschrittstendenz zustreben. Beide universalistischen Strömungen vereinten sich, um Deutschland zu zerschlagen, sich jeweils einen Teil von ihm einzuverleiben und dann als Speerspitze zu benutzen.

Was Nolte als seine wissenschaftliche Pflicht versteht: den Nationalsozialismus, Bolschewismus, Liberalismus und den Holocaust zu historisieren und zu kontextualisieren, wurde ihm als Bestrebung unterlegt, Hitler zu entlasten und den Juden eine Mitschuld an ihrem Schicksal zu übertragen. Nolte sieht in dem Vorwurf eine „absolutistische ‘Pseudo-Religion’“ am Werk, die Hitler und das nationalsozialistische Deutschland als ein „absolut Böses“ mystifiziert und komplementär dazu die Juden und Israel als ein „absolut Gutes“. Ob die Bundesrepublik ein „antiwissenschaftlicher Unrechtsstaat“ sei, ist für ihn eine durchaus offene Frage.

Dem modernen Zionismus ist es gelungen, mit der Sakralisierung des Holocaust ein universelles Recht zu setzen – Nolte spricht von „mentaler Weltherrschaft“ – und zugleich ein partielles Recht zu behaupten, welches eigene Lebensinteressen über den Universalismus stellt. Dies äußert sich im Anspruch Israels auf das „biblische Land“, in der Selbstdefinition als „auserwähltes Volk“ und in der Behandlung der Palästinenser.

Für Deutschland bedeutet das den Fortgang des Weltbürgerkrieges über die Wiedervereinigung hinaus. Denn ein Herzstück der „Pseudo-Religion“ ist eine „negativ-germanozentrische“ Geschichtsauslegung, in der das „Täter-“ das Gegenstück zum „auserwählten Volk“ bildet. Die Internalisierung dieses Geschichtsbildes durch die Deutschen, die sich in der Errichtung des Berliner Holocaust-Mahnmals manifestiert, beschreibt Nolte seit über 15 Jahren als schleichenden, geistig-moralischen Tod eines Kulturvolkes, der gleichfalls singulär ist.

In seinem 1998 erschienenen Werk „Historische Existenz“ heißt es, „einen so von innen her erfolgreichen Versuch dieser Art hatte es in der ganzen Weltgeschichte bis dahin nicht gegeben“. Vor dem Hintergrund einer so dramatisch erkannten Lage sieht der Historiker Nolte sich aufgerufen, einen neuerlich geschärften Blick auf das apostrophierte „kleine Recht“ Hitlers zu werfen. Er will prüfen, ob dem Bedrohungsgefühl, welches das Handeln der Nationalsozialisten bestimmte, vielleicht mehr Realitätssinn bzw. ein größerer „rationaler Kern“ zuzuschreiben ist, als er, Nolte, das bisher konzediert hatte. Nicht wenige der hypothetischen Vergleiche, Spekulationen und Formulierungen, die er aufwirft und benutzt, sprengen den bisherigen Rahmen. Das Verfahren ist indes kein Selbstzweck und erst recht keine Affirmation Hitlers. Es dient dazu, die „negativ-germanozentrischen“ Thesen bis zur Kenntlichkeit zu entstellen und selber zu historisieren.

Der Versuch, die Vernichtungsangriffe auf Dresden im Februar 1945 damit zu rechtfertigen, daß dort unter anderem Rüstungsgüter produziert wurden und es sich ganz allgemein um eine „Nazistadt“ gehandelt habe, läuft in der Darstellung Noltes auf einen Rechtfertigungsversuch des Holocausts hinaus. Wer die Tätigkeit weniger Dresdner in der Rüstungsindustrie als Argument für die unterschiedslose Ermordung Zehntausender bemüht, könne über die reale oder potentielle Partisanentätigkeit von Juden, die nach den Äußerungen führender jüdischer Vertreter wie Chaim Weizmann nahelag, nicht hinwegsehen. Das ist nun wirklich die äußerste Zuspitzung einer vor über dreißig Jahren erstmals geäußerten These. Doch noch einmal: Keinesfalls werde damit der Judenmord „verständlich“ gemacht oder gar entschuldigt. Es geht darum, die Inkonsequenzen und Perversionen einer antideutsch intendierten Historiographie freizulegen!

Nolte hält die jüdische Emanzipation innerhalb der christlichen Gesellschaft für etwas Außerordentliches: Eine Religion, die Kritik am Christentum übte und zu seiner Säkularisierung beitrug, wurde von ihr als gleichberechtigt anerkannt. In islamischen Gesellschaften war und ist das undenkbar. Das ist bei der Betrachtung späterer Schrecken zu bedenken. Im Werk Ernst Noltes steckt eben neben dem Wissen über die Vergangenheit viel Zukünftiges. Der Hinweis auf den Islam ist gleichfalls voller Hintersinn. Seine globale Dynamik wird auch deswegen zur Herausforderung für die jüdischen, christlichen und postchristlichen Gesellschaften, weil er die universale Verbindlichkeit des Holocaust attackiert. Es gibt mehr als nur einen Grund, daß Ernst Noltes letztes Buch vor allem ein Buch der Sorge ist.

Ernst Nolte: Späte Reflexionen. Über den Weltbürgerkrieg des 20. Jahrhunderts. Karolinger Verlag, Wien 2011, gebunden, 320 Seiten, broschiert, 24 Euro

Foto: Grassodenställe auf Island: Da schwanden die Eide, Wort und Schwüre, / Alle festen Verträge jüngst trefflich erdacht. (Der Seherin Ausspruch, Göttersage, Edda)

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen