© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Der diabolische Organisator
Reinhard Heydrich: Doch eher Triebtäter als Technokrat des Holocaust? Zu einer neuen Biographie über die irritierende „Supernova“ des Dritten Reiches.
Daniel Herrnstein

Keine der Größen des Dritten Reiches war rätselhafter und umstrittener als Reinhard Heydrich. Galt er den einen als Triebfeder der Judenverfolgung, dichteten ihm andere selbst jüdische Vorfahren an. Blond, hochgewachsen, sportlich, mit einem metallischen Zug im Wesen – hätte der Nationalsozialismus in einen Spiegel geblickt, Reinhard Heydrich hätte herausgeschaut. Doch mehr als die ideologischen Positionen des Nationalsozialismus fesselten Effizienz, Perfektion und Macht Heydrichs Verstand. Der US-Historiker Charles Sydnor fand dafür ein grandioses Bild: „Unter den zahllosen kleinen Sternen des Milchstraßensystems im Universum Hitler war Heydrich die einzige Supernova, die jüngste und – neben Albert Speer – fähigste Persönlichkeit des Dritten Reiches.“

Seine Karriere war ein Senkrechtstart. Bereits mit 27 Jahren war er Chef des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD), mit 32 gebot er über die Geheime Staatspolizei, 1939 wurde das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin, eine gigantische Sicherheitsbehörde, eigens für ihn geschaffen. 1941 schickte ihn Hitler zusätzlich als Statthalter nach Prag. Mit der Politik von Zuckerbrot und Peitsche gelang es ihm, in wenigen Monaten die Vergewaltigung der Tschechen in Verführung und das unruhig gewesene Protektorat in eine funktionierende deutsche Waffenschmiede umzuwandeln. Aus diesem Grund befahl die tschechische Exilregierung im Mai 1942 ein Bombenattentat auf ihn, das von aus England eingeflogenen Fallschirmagenten ausgeführt wurde, und an dessen Folgen er nach einigen Tagen starb.

In Heydrich wurde wie in keinem anderen der SS-Staat manifest. Neben allen anderen Aufgaben war er auch mit der „Endlösung der Judenfrage“ beauftragt, die er erst mit freiwilliger oder erzwungener Auswanderung, nach Kriegsbeginn im Zuge der „Neuordnung des polnischen Raums“, später auf Madagaskar territorial umzusetzen gedachte – und die er nach dem Scheitern aller Pläne bis zu den Anfängen des Massenmords organisierte.

Nach dem Krieg blieb Heydrichs Bild lange von Mythen verstellt – bis als erstes die 1971 erschienene Arbeit des israelischen Historikers Shlomo Aronson, „Heydrich und die Frühgeschichte von Gestapo und SD“, die Legende von der „jüdischen Abstammung“ Heydrichs und eines dadurch ausgelösten „Judenhasses“ demontierte. 1977 erschien dann in der Bundesrepublik eine erste große Biographie „Statthalter der totalen Macht“ aus der Feder des Historikers und Welt-Journalisten Günther Deschner, der den Forschungsstand, die Auswertung bis dahin unbekannter Dokumente und Zeitzeugeninterviews zu einem kritisch-vielseitigen Lebensbild Heydrichs verknüpfte. Das bald als Standardwerk geltende Buch erschien 2008 in fünfter Auflage (mit neuem Titel „Biographie eines Reichs-protektors“) und kam übersetzt auch in den USA, in England, in Tschechien und Polen heraus.

Jetzt hat der 1976 geborene und am University College in Dublin lehrende deutsche Historiker Robert Gerwarth ein Werk vorgelegt, das den Anspruch erhebt, „die erste große wissenschaftliche Heydrich-Biographie“ (Verlagswerbung) zu sein. Zeitgleich mit der deutschen Ausgabe im Siedler-Verlag erschien das englische Original unter dem, wie auf der Insel nicht selten üblich, etwas reißerischen Titel „Hitler’s Hangman. The Life and Death of Reinhard Heydrich“ (Yale Press).

Gerwarth studierte Geschichte in Berlin und an der University of Oxford, wo er mit einer Studie zum Bismarck-Mythos promovierte, in der er die These vertritt, dieser habe als „idealisierte Vergangenheit“ die „Gegenwart der Weimarer Republik entwertet“. Die darin und auch in anderen Texten erkennbare Neigung Gerwarths zur Erhellung des „Verhängnisvollen“ in der deutschen Geschichte macht sich auch in seiner Betrachtung der Figur Hey-drichs bemerkbar. Anders als Aronson und Deschner, die den SD-Chef als nur oberflächlich mit NS-Ideologie durchdrungenen Organisator und Technokraten werten, sieht Gerwarth in ihm „eine Kombination aus fanatischer Ideologie und kaltem Verbrechertum“.

Gerwarth hebt zwar hervor – für Historiker eine Selbstverständlichkeit –, er habe „Heydrichs Leben mit kritischer Distanz zu rekonstruieren versucht, ohne zu urteilen und zu verurteilen, wie dies etwa ein Staatsanwalt bei einem Kriegsverbrecherprozeß tun würde“, doch er läßt keine Gelegenheit vorbeigehen, ihn schon für die Mitte der dreißiger Jahre – völlig überzogen – als einen „der radikalsten Verfechter der nationalsozialistischen Weltanschauung“ zu präsentieren. „Heydrichs im Grunde genommen unübertroffener Radikalismus (...) speist sich aus dem Bedürfnis, den Mangel der späten Konversion zum Nationalsozialismus zu kompensieren.“ Dabei weiß man aus den Zeugnissen engster Mitarbeiter – etwa von Werner Best, dem Justitiar des SD, daß Heydrich nicht aus weltanschaulichen oder moralischen Kraftquellen seine Motivation bezog, sondern ausschließlich aus dem Drang zur Leistung, zur Perfektion, zur Macht.

Die ansonsten über weite Strecken gut fundierte und teilweise auf bislang kaum genutzte Aktenbestände gestützte Arbeit Gerwarths läßt leider aufregende Komplexe so gut wie unbeachtet, die seiner These vom „fanatischen“ Nationalsozialisten Heydrich widersprechen – etwa dessen enge Zusammenarbeit mit zionistischen Organisationen, wie sie aus Deschners Neuausgabe von 2008 und der sensationellen Dokumentation Lenni Brenners „Zionismus und Faschismus“, Berlin 2007, detailliert dokumentiert ist.

Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich. Biographie. Siedler Verlag, München 2011, gebunden, 480 Seiten, Abbildungen, 29,99 Euro

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