© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/11 / 21. Oktober 2011

„Diffamierung jeder linken Politik“
Linksextremismus: Nach der Entdeckung von Brandsätzen an Bahnstrecken ist eine Diskussion über einen neuen Terrorismus entbrannt
Henning Hoffgaard

Permanentes Angreifen ist eine wichtige Sache, um unsere Gegner_innen klar zu benennen, zu treffen, und auch zu zeigen, daß es Möglichkeiten der Verwundbarkeit gibt. Es geht auch darum, Wut freizusetzen.“ So steht es im Vorwort der linksradikalen Broschüre Bauwas, die damit die Chronik linker Anschläge im Jahr 2009 einleitete. Die nächste Chronik dürfte dank der aktuellen Brandanschläge auf die Deutsche Bahn in und um Berlin auch 2011 wieder eine beachtliche Länge aufweisen. Die Nachrichtenagenturen und Presseticker der Polizei überschlugen sich in der vergangenen Woche mit immer neuen Brandsatzfunden. Fast stündlich entdeckten Polizisten, Bauarbeiter oder Bahnpersonal neue Brandsätze. Insgesamt wurden 18 Sprengsätze, bestehend aus je sieben mit Benzin gefüllten Flaschen und einem in blauen Brotdosen deponierten Zündmechanismus gefunden. Zwei davon zündeten plangemäß und sorgten so für Hunderte Zugverspätungen. Der Schaden ist noch nicht genau beziffert, dürfte aber in die Millionen gehen. Zeitweise waren Nah- und Fernverkehr in der Hauptstadt erheblich gestört. Die Bahn hat mittlerweile eine Belohnung von 100.000 Euro für Hinweise ausgesetzt, die zur Ergreifung der Täter führen.

Während Polizei, Bundeskriminalamt und der Generalbundesanwalt, der mittlerweile die Ermittlungen wegen des Verdachts der „verfassungsfeindlichen Sabotage“ an sich gezogen hat, fieberhaft versuchen, die Täter zu fassen, hat die linksextreme Szene, aus deren Reihen sich die Täter offenbar rekrutieren, ein ganz anderes Problem: Obwohl „neofaschistische Anschläge“ auf linke Treffpunkte schon traurige Normalität seien, würden Vertreter von CDU und CSU jetzt vor einem neuen Linksterrorismus warnen, beklagte die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke (Linkspartei). Die Politikerin, die selbst über Kontakte zu linksextremen Gruppierungen verfügt, ist sich sicher, die Täter wollten keine Menschen verletzen. Zudem seien die im Bekennerschreiben genannten Ziele der Gruppe durchaus richtig. „Sie wendet sich gegen den alltäglichen Leistungsdruck, der Menschen kaputt und krank macht“, schreibt Jelpke. Von einem neuen Terrorismus, vor dem zahlreiche CDU-Politiker und die Polizeigewerkschaften warnten, will sie nichts wissen. Denen ginge es nur um die „Diffamierung jeder linken Politik“. Auch das Neue Deutschland ärgerte sich über die Diskussion und hielt den Tätern vor, „die Falschen“ getroffen zu haben.

Die öffentliche Debatte und die immer wieder angesprochenen Parallelen zum beginnenden RAF-Terror in den siebziger Jahren, wie sie etwa Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) und Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) ausgemacht hatten, riefen auch die mutmaßlichen Täter wieder auf den Plan. Nachdem sich das „Hekla-Empfangskomitee“ in einem langen Schreiben auf der linksextremen Internetplattform „Indymedia.Linksunten“ zu den Anschlägen bekannt hatte, veröffentliche die Gruppe am Donnerstag vergangener Woche dort eine „Richtigstellung zur Medienberichterstattung zu den Brandsätzen an Kabelschächten der Bahn“. Darin beteuern die anonymen Autoren, sie wollten zu keinem Zeitpunkt Menschen gefährden. Dies sei mit diesen Sprengsätzen, wie „Bahnexperten“ bestätigt hätten, auch gar nicht möglich gewesen. Der Braunschweiger Eisenbahnwissenschaftler Jörn Pachl hielt jedoch auch größere Brände und Unfälle für möglich, da Kabelbrände auch immer die Notfallsysteme zerstören könnten. An ihrem Ziel der „Entschleunigung der Hauptstadt“ wollten die Täter dennoch festhalten.

Während Linkspartei, SPD, Grüne und Piratenpartei jetzt einhellig davor warnen, angesichts der 18 Sprengsätze von „linkem Terror“ zu reden, sprach der Verfassungsschutz bereits in seinem Jahresbericht 2010 von einem steigenden „Aggressions- und Konfrontationsniveau in der gewaltbereiten linksextremistischen Szene“. Angriffe auf Polizisten und echte oder vermeintliche „Rechtsextremisten“ seien deutlich angestiegen. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CDU) forderte die Bürger auf, künftig wachsamer zu sein, damit die in den „Anschlägen zum Ausdruck kommende Gewaltbereitschaft sich nicht zu einem neuen Linksterrorismus entwickelt“.

Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) und die Deutsche Polizeigewerkschaft forderten vom Staatsschutz deswegen einen intensiveren Einsatz von V-Männern. BDK-Chef André Schulz zeichnete allerdings ein düsteres Bild von den Möglichkeiten der Behörden im Kampf gegen den Linksextremismus: Dazu fehlen derzeit „einige hundert Staatsschützer, die nach dem 11. September 2001 für den Anti-Terror-Kampf abgezogen worden sind“.

 

Kabelstränge im Visier

In der vergangenen Woche wurden in Berlin und Brandenburg an Bahnanlagen insgesamt 18 Brandsätze  entdeckt, von denen zwei zündeten. Ziel der vermutlich linksextremistischen Täter war es, durch die Zerstörung von Kabeln, mit denen unter anderem die Signalanlagen gesteuert werden, den Bahnverkehr zu unterbrechen. Vorbild hierfür war vermutlich ein Anschlag auf einen Kabelschacht im Mai, durch den der S-Bahn-Verkehr in Berlin teilweise tagelang massiv beeinträchtigt worden war.

Foto: Von der Polizei entdeckter Brandsatz aus benzingefüllten Flaschen: „Entschleunigung der Hauptstadt“

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