© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/11 / 21. Oktober 2011

Pankraz,
der Schwarm und der Tanz der Ichlinge

So schnöde hat noch niemand vom Ich gesprochen. Für Professor H. W. Opaschowski (70), Hamburger Soziologe und „Freizeitforscher“, gibt es dieses Ich gar nicht, für ihn gibt es nur „Ichlinge“, ein dubioses Geschlecht von Egoisten und Querulanten, deren Zeit jetzt glücklicherweise ablaufe. „Wir!“ – so lautet der triumphierende Titel von Opaschowskis neuem Buch. Es gibt darin zwar nur das übliche Gutmenschengeschwätz in Zeiten der Finanzkrise, aber immerhin taucht schon im Untertitel jener Neologismus auf, der Pankraz so aufstieß: „Warum Ichlinge keine Zukunft mehr haben.“

Die Nachsilbe „-ling“ meint im Deutschen Herabstufung der gemeinten Sache. Entweder bezeichnet sie üble Charaktere (Fiesling, Frechling, Finsterling) oder Menschen im Zustand der Absonderung bzw. des Noch-nicht-Aufgenommenseins (Sonderling, Prüfling, Täufling). Selbst gänzlich positiv gemeinten -ling-Wörtern hängt noch etwas Herablassendes an. Der appetitliche Bückling muß tot sein, um voll anerkannt zu werden, der erklärte Liebling muß sich dauernd sehr anstrengen, sonst verliert er seinen privilegierten Status schnell.

Für Opaschowskis Ichling gilt von vornherein: Er mag sich noch so sehr anstrengen, zum Liebling wird er nie, nicht einmal zum Bückling. Ihm helfen weder Taufe noch Prüfung, er müßte als er selbst vollkommen verschwinden, um Gnade vor dem soziologischen Blick des Freizeitforschers und Gutmenschen zu finden. Denn sein Ich-Bewußtsein bildet er sich nur ein, was in der Regel zu bösen Häusern führt.

In der Wirklichkeit gibt es gar kein Ich, sondern einzig und allein das „Wir!“, den „Schwarm“ mit seiner spezifischen „Schwarmintelligenz“. Lebewesen ordnen sich demzufolge widerspruchslos in die Schwarmintelligenz des Wir! ein. Wer sich querlegt, ist nichts weiter als eine lästige Mutation, ein momentaner Webfehler im System, der so schnell wie möglich beseitigt werden muß.

Was soll man von einer solchen Sicht halten? Ist sie wirklich, wie Opaschowski offenbar meint, die notwendige Antwort auf die medialen Exzesse des Neoliberalismus mit seinem wüsten Lobpreis des einzig auf individuellen Profit bedachten Individuums? Wird hier gar ein neues wissenschaftliches Paragigma aufgerichtet? Nun, davon kann gewißlich keine Rede sein.

Zwar hat die aktuelle Schwarmforschung so manche erstaunliche Parallele zwischen Mensch und Tier zutage gefördert, aber die Abschaffung des stolzen menschlichen Ichs zugunsten eines sardellenähnlichen, sich die Individualität nur einbildenden Ichlings rückte dabei nicht ins Visier. Die Generaldevise der Schwarmforschung steht, mag sein, quer zum neoliberalen Individualismus (und übrigens auch zum seit langem üblichen Selbstverwirklichungspathos der Gutmenschen), doch am Ich selbst nagt sie nicht.

Ihre bevorzugten Modelle sind der Ameisenstaat und die riesigen Sardellen- und Heringsschwärme in den Weltmeeren. Der einzelne ist dort nichts, der Schwarm ist alles. Das Individuum im Schwarm hat angeblich nicht das geringste eigene Selbstbewußtsein, es ist Moment des Schwarms und sonst nichts. Einzig das Volk, dem es angehört, ist intelligent, flexibel, einfallsreich, das Individuum selbst ist horizontlos, stur, reagiert lediglich auf einige wenige Sinnenreize, die ihm der Schwarm gewissermaßen in den Futtertrog schmeißt.

Wie gesagt, die Forscher haben inzwischen beim Menschen zahllose Formen spontanen Schwarmverhaltens à la Blattschneiderameise diagnostiziert. Beim Straßenverkehr mit vielen beteiligten Einzelpersonen etwa reagieren wir, ohne extra darüber nachzudenken, nach vorgegebenen Schwarmregeln, und diese Regeln können fixiert und im Computer simuliert werden, wie auch die Verläufe von Universitätsseminaren oder Arbeitsgruppen im Labor. Es gibt ein rein kollektives Lernen, Schwarmlernen, und das ist nicht dasselbe wie Lernen im eigenen abgeschotteten Gehäus.

Aber die Wirklichkeit des individuellen Ichs wird dadurch nicht widerlegt, auch nicht durch Nietzsches berühmten Einwand, daß das individuelle Leben nichts weiter sei als ein Maskenspiel, ein ewiges Sich-Orientieren an Sinneswahrnehmungen, Beobachtungen und Erinnerungen, die man aus Überlebensgründen vorzeige oder hintanstelle, je nach Bedarf. „Unsere Masken sind das einzige, was an uns wahrhaftig ist“, schrieb Nietzsche, eine unmaskierte Existenz sei gar nicht möglich. Das Ich, das angeblich hinter allen Masken nackt und bloß stecke, gebe es gar nicht, es sei lediglich eine lebenspraktische Fiktion.

Ob aber nun altruistisches Schwarmverhalten oder egoistisches Maskenspiel – es muß in jedem Fall etwas geben, das sich entweder verhält oder maskiert, und eben dieses Etwas ist das Ich. Man mag es im Stil der Schwarmforscher zum bloßen Duftempfänger erklären oder im Stil Nietzsches zu „einem Seelenraum, der zersplittert ist in tausend Fragmente der immerwährenden Selbstauflösung“ – an der Existenz dieser „Fiktion“ gibt es keinen Zweifel.

Es ist kein bloßer Ichling, den man ohne Federlesen zur Blattschneiderameise herabstufen kann (um ihm gleichzeitig sämtliche Managersünden der Finanzkrise anzuhängen), weder ein Fiesling noch ein Bücklung, sondern eine ewig sehnsüchtige, auf Gutes begierige Identität, die – zumindest als „lebenspraktische Fiktion“ – unendlich gebraucht wird. Kein einziges juristisches Urteil wäre möglich ohne Ich, denn allein das voll anerkannte und als Person respektierte Ich kann Verantwortung übernehmen; Verantwortung aber ist das Schlüsselwort für menschliche Existenz überhaupt, für Kultur und Gerechtigkeit.

Das wird mit Sicherheit auch in Zukunft so bleiben. Das von H.W. Opaschowski so aufdringlich gefeierte „Wir!“ hingegen  hat viele Gestalten, und die wechseln im Lauf der Geschichte immer wieder ihren Platz, geraten unter die verschiedensten Beleuchtungen, gehen schließlich unter. Das Ich hingegen, so zersplittert, fiktiv und auflöslich es sein mag, wird bleiben, solange es Menschen gibt.

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