© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/11 / 21. Oktober 2011

Brief und Telefon waren gestern
Dieser Fortschritt macht es uns allzu bequem: In München wurde Ray Tomlinson, der Erfinder der E-Mail, gefeiert
Richard Stoltz

Supernovas verdunkeln sich gegenseitig. Bei all der Trauer und Aufregung über den Tod von Steve Jobs ist ein anderer sogenannter „Pionier der modernen Medienwelt“ völlig ins Abseits gedrückt worden: Raymond Samuel („Ray“) Tomlinson (70), der Erfinder der E-Mail. Er nahm zur gleichen Zeit in München den renommierten Kulturpreis der Eduard-Rhein-Stiftung entgegen und wurde mächtig gefeiert als „Überwinder des Briefverkehrs, des Telefons und des Telegramms“, freilich ohne daß die Medien auch nur die geringste Notiz davon genommen hätten.

Armer Ray Tomlinson! Genau vierzig Jahre ist es jetzt her, daß der Mann zum ersten Mal eine elektronische Post auf den Weg brachte – er adressierte sie an seinen Computer im Nebenzimmer und hatte, wie er heute sagt, keine Ahnung davon, was er da anrichtete. Inzwischen benutzt die ganze Welt E-Mails. Ihr Siegeszug war nicht aufzuhalten, denn sie war äußerst bequem, schneller als jedes Telegramm, man brauchte sich bei ihr nicht mehr stilistisch anzustrengen wie beim Brief und ersparte sich auch die persönliche Konfrontation des Telefonierens mit all den damit eventuell verbundenen Aufregungen und Herausforderungen.

Aber man darf fragen: Ist die E-Mail vielleicht allzu bequem? Läuft dem Zuwachs an Schnelligkeit, an Vermeidung strapaziösen Seelen-Engagements, nicht ein fataler Zuwachs an Schludrigkeit und Gleichgültigkeit im Umgang mit anderen parallel?  Man nehme nur das Briefschreiben. Es war einst eine richtige Kunst, beim Briefeschreiben rissen sich selbst halbe Analphabeten deutlich am Riemen, strengten sich an. Vorbei, vorbei.

Oder das Telefon. Auch wer telefoniert, muß sich irgendwie am Riemen reißen. Er kann sich weder gänzlich gehen lassen noch gänzlich mit Coolness wappnen. Wer sich des Telefons bedient, setzt sich kaum geringeren geistigen Ansprüchen aus als der Briefschreiber.

Dagegen nun die E-Mail! Man beobachte nur, wie die meisten Zeitgenossen die Strecke ihrer tagtäglichen E-Mails checken! Es ist ein Graus, das Ende aller wirklichen Kommunikation. Dieser Fortschritt wurde mit bitteren Verlusten erkauft.

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