© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/11 / 21. Oktober 2011

Macht kaputt, was euch kaputtmacht
Hirnmodelle als „neoliberale“ Spiegelbilder / Ideologiekritische Musterungen der Neurowissenschaften
Robin Brinkmann

Großbritannien ist wie Deutschland ein rohstoffarmes Land. Es muß durch Geist ersetzen, was ihm die Natur versagt. Um im globalen Überlebenskampf bestehen zu können, sind die Briten daher gezwungen, das kognitive Potential des produktiven Bevölkerungsteils, dessen Kreativität und Intelligenz, zu pflegen und optimal auszuschöpfen. Deshalb gab das Government Office for Science 2006 eine Studie in Auftrag, um bei Jugendlichen neurowissenschaftliche Voraussetzungen für deren effiziente Integration in die wissensbasierte Gesellschaft aufzuspüren.

Die 2008 unter dem Titel „Mental Capital and Wellbeing“ veröffentlichte Untersuchung knüpfte dabei an Verheißungen der seit der Jahrtausendwende im Eiltempo zur Leitwissenschaft avancierten Hirnforschung an. Die hatte die Plastizität des jugendlichen (adoleszenten) Gehirns stark exponiert und damit zur politischen Umsetzung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse geradezu eingeladen. Den Bildungsexperten der Labour-Regierung eröffnete sie Perspektiven pädagogischer Interventionen, um frühzeitig jugendliches Bewußtsein an die Existenzbedingungen der Leistungsgesellschaft anzupassen.

Neben der Formierung und Steigerung kognitiver Potentiale galt die Aufmerksamkeit der Studie auch den hirnphysiologisch determinierten mentalen Konditionen der für ein langes Arbeitsleben aufrechtzuerhaltenden Leistungsfähigkeit. Und zwar schon deshalb, weil britische Firmen infolge psychischer Erkrankungen jährlich einen Ausfall von 13 Millionen Arbeitstagen registrierten, was 2006 zu ökonomischen Folgekosten in Höhe von 77 Milliarden Pfund führte. Psychische Defekte und kognitive Unzulänglichkeiten wurden hier als die wichtigsten „Störfaktoren“ identifiziert, die als Sand im Getriebe die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Wirtschaft schwächten, wie Lutz Fricke (Queen’s University Belfast) und Suparna Choudhury (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte) in ihrer Analyse des wundersamen Aufstiegs der Neurowissenschaften bemerken (Deutsche Zeitschrift für Philosophie/DZ-Phil, 3/11).

Wie der Ausbruch jugendlicher Gewalt, der London im August ein Bürgerkriegsszenario bescherte (JF 34/11), zeigt, hapert es zwar mit der von Hirnforschern angeleiteten Erziehung zur braven Funktionalität noch ein wenig. Ein vielleicht nur temporäres Ausbleiben praktischer Erfolge steht dem Befund von Fricke und Choudhury indes nicht entgegen, die Mental-Capital-Studie als Schlüsseldokument zukunftsgewisser Neuro-Politik klassifizieren zu dürfen.

Denn sie mache deutlich, wie der neurologische Begriff „Plastizität“, der die sukzessive Ausbildung von komplexen Verschaltungen im Großhirn wie Änderungen von neuronalen Aktivierungsmustern in den Köpfen von Kindern und Teenagern meint, politische Begehrlichkeiten wecke und ihnen „Interventionsmöglichkeiten“ anbiete. Bildungs- und sozialpolitische Eingriffserfordernisse ergeben sich etwa aus der von Hirnforschern konstruierten erhöhten „Risikobereitschaft“ Jugendlicher. Infolge langwieriger Reifung des präfrontalen Kortex (Teil des Frontallappens der Großhirnrinde) verlängere sich die Periode verminderter Selbstkontrolle. Daraus resultierten erhöhte Gewaltbereitschaft, frühe Schwangerschaften, Indolenz gegenüber Risiken des Alkohol-, Tabak- und Rauschgiftkonsums. In dieser Reifephase lassen sich, gerade wegen der postulierten „Formbarkeit der Gehirne“, die meisten Lebensweichen aber noch in die gesellschaftlich erwünschte Richtung stellen.

Die politische Attraktivität solcher neurologisch fundierten Menschenbilder ist unschwer zu verkennen. Der von Fricke und Choudhury wie von anderen Beiträgern zum DZ-Phil-Schwerpunkt „Kritische Philosophie der Neurowissenschaften“ akzentuierte Zusammenhang zwischen einer mit Millionenetats geförderten Spezialdisziplin und dem sozioökonomischen Nutzen des dort generierten Wissens ist freilich nicht originell. Rekurrieren die beiden doch nicht zufällig auf die französische Philosophin Catherine Malabou („Was tun mit unserem Gehirn“, 2006), die die dominierenden Konzeptualisierungen des Gehirns als sich selbst organisierende, adaptive und flexible Netzwerke für spiegelbildliche Entsprechungen des neoliberalen Gesellschaftsmodells hält.

Der neoliberale „Zwang zur Flexibilität und das Risiko der Prekarität“ würden bei ihr, wie Fricke und Choudhury zitieren, als „kongruent mit der naturgegebenen Organisation des Gehirns“ verstanden. Die Züricher Psychologen Ewa Hess und Hennric Jokeit brachten das Phänomen 2009 in einem vielbeachteten Merkur-Essay auf die Formel „Neurokapitalismus“. Von dieser Interpretation ist es nur ein Katzensprung zum etwas altbacken-kurzschlüssig wirkenden Ansatz des linksliberalen Luzerner Philosophen Martin Hartmann, eines Enkels der „Frankfurter Schule“, der in seinem DZ-Phil-Aufsatz die Brücke schlägt zwischen „neurowissenschaftlicher Forschungspraxis und effizienorientierten Imperativen der kapitalistischen Ökonomie“. Hartmann beruft sich dafür auf Hess und Jokeit, die behaupten, vor allem das Profitmotiv steuere die neurologische Wissensproduktion.

Sie erzeuge ein Wissen, das wesentlich manipulativ sei, „eher anwendungs- als verstehensorientiert“ und stets auf „mögliche Umsetzungskontexte“ zielend. Das wurzelt für Hartmann in der Eigenart dieser Forschungsrichtung. Denn anders als in die Physik fließen in die Neurowissenschaften, die sich auf die Erhellung der menschlichen Lebenswelt konzentrieren, ideologische Komponenten ein, was sie „anfälliger für Politisierungen und Ökonomisierungen“ mache als die klassischen mathematisch-physikalischen Naturwissenschaften. Hartmann, Fricke, Choudhury und die wachsende Schar argwöhnischer Gegner des „Neurokapitalismus“ folgen in ihrer auf den ersten Blick so differenzierten Argumentation letztlich einem Standardmuster konventioneller Systemkritik.

Die warf einst den Geistes- und Sozialwissenschaften vor, als Legitimationsbeschaffer nur den Status quo zu zementieren. Heute gilt derselbe Vorwurf den Neurowissenschaften, weil sie helfen, das „kranke“ Subjekt, noch um den Preis zunehmender Medikalisierung selbst von Kindern und Jugendlichen, in die als „alternativlos“ deklarierten „kapitalistischen Produktionsverhältnisse“ einzufügen und nichts zu deren Humanisierung beizutragen, gemäß der 68er-Parole: „Macht kaputt, was euch kaputtmacht.“

Die „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“:  www.oldenbourg-link.com

Foto: Magnetresonanztomographie verschiedener Hirnregionen: Lebhafte Diskussion über Bildungs- und sozialpolitische Eingriffserfordernisse

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