© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/11 / 28. Oktober 2011

Der Islam soll es richten
Libyen: Nach dem Tod Gaddafis ist das Land auf der Suche nach sich selbst / Islamisten als Stabilitätsanker
Billy Six

Gaddafi ist tot – und die Tage der libyschen „Jamaharija“ gezählt. Am Ende gab es auch keinen anderen Ausweg mehr. Die bedrängten Anhänger der „Grünen Revolution“ von 1969 wollten sich bis zuletzt nicht geschlagen geben – aus Gründen der Stammesloyalität und aus Abwehr gegen eine gefühlte ausländische Aggression. In Sirt, Bani Walid und Jufrah hielt sich der Widerstand noch Wochen nach dem Fall der Hauptstadt – gegen verschiedene Rebellenfraktionen aus mehreren Richtungen und die Luftangriffe der Nato. Selbst in Tripolis und der südlichen Metropole Sabha blieben Untergrundkämpfer aktiv.

Zugleich begann die anfangs bemerkenswerte Disziplin in den „befreiten“ Gebieten spürbar zu bröckeln. Der anfänglich überschwengliche Patriotismus, die Hoffnungen auf eine bessere Zeit waren zuletzt einem tiefen Frust gewichen – Enttäuschung über Stillstand und Zerrissenheit der Heimat. Die enthusiastischen jungen Menschen, die noch im Frühjahr in der Mittelmeermetropole Bengasi kampiert hatten, waren bereits alle nach Hause zurückgekehrt.

Die freien Medienzentren – abgewirtschaftet. Im rechtsfreien Raum begannen Drogenhandel und Menschenschmuggel wieder zuzunehmen. Einige Rebellen machten sich daran, die fernen Ölanlagen und Konstruktionsbaustellen in der Wüste rigoros auszuplündern. Begründung: Sicherstellung von Werten vor dem Zugriff durch Gaddafis Einheiten.

Auch als Gejagter hielt der Ex-Revolutionsführer weiterhin als Begründung für jederlei Machenschaften her, die mit den ursprünglichen Zielen der 2011er Gegenrevolution gar nichts mehr zu tun hatten. Die dringend benötigte Entscheidung, Polizei, Verwaltungen und Schulen wieder zu aktivieren, konnten und wollten die neuen Herren von Bengasi, bisher ohne Legitimation durch das Volk, nicht treffen.

Ohne das Schweigen der Waffen in weiten Teilen des Landes ist an Staatsaufbau jedoch nicht zu denken. So schreitet die Eigendynamik des Revolutionskrieges bedenklich voran. Die Geschäftstätigkeiten bewaffneter Clan- und Privatmilizen führten zuletzt immer mehr zu Spannungen mit den Freiwilligenbrigaden des „17. Februar“.

Ein Mittelsmann des Übergangsrates, zuletzt aus dem Schweizer Exil zurückgekehrt, berichtet aus seiner alten Heimatstadt Misratah: „Wir haben es hier mittlerweile mit über 100 bewaffneten Gruppen zu tun – und hinter den meisten stehen schwerreiche Paten, die es in der Vergangenheit durch eine Mischung aus Unternehmergeist und Korruption zu viel Geld gebracht haben. Die einzige Einheit, die das Gemeinwohl noch hochhält, ist die islamische Al Farouk, die von Afghanistan-Veteranen geführt wird.“

„Al Farouk“ (dt. „Trennung von Gut und Böse“), die für einen Gottesstaat am Mittelmeer kämpft, ist aus dem Sammelbecken der „Mukhatila“ entstanden. Diese „Libysche Islamische Kampfgruppe“ kämpfte bereits in den 1990er Jahren gegen das Regime von Muammar al Gaddafi an – bezeichnenderweise in den gleichen Gebieten, von denen im Februar hauptsächlich der neue Aufstand losbrach, der Cyrenaika und mit Abstrichen auch Misratah. Die Regierung schlug den damaligen bewaffneten Aufruhr brutal nieder. Seine Gegner haben Gaddafi das nicht vergessen – und sich am 20. Oktober 2011 auf ihre Weise gerächt. Eine Exekution – die wahrscheinliche Todesursache Muammar al Gaddafis.

Wie konnte es dazu kommen, daß sich der einst beliebte 27jährige Jungrevolutionär, der sich 1969 an die Macht geputscht hatte, später so sehr mit dem politischen Islam und den religiös-konservativen Bürgern des libyschen Ostens überwarf? Immerhin waren „revolutionärer Islam“, „Gleichheit der Menschen“ und „Anti-Imperialismus“ seine lautstark thematisierten Parolen.

In den vergangenen 42 Jahren wurde überhaupt erst einmal eine tiefere libysche Identität geschaffen – über Jahrhunderte hatten die Regionen und Stämme aneinander vorbei gelebt. Die Rate an Analphabeten sank von 80 bis 90 Prozent auf 10 bis 20 Prozent. Studieren war kostenlos. Benzin, Nahrungsmittel, Wasser, Strom, Wohnen – spottbillig. Hunger und Obdachlosigkeit? Nicht in Libyen.

Das nordafrikanische Land wurde zum wohlhabendsten des ganzen Kontinents. Ein ausgeklüngeltes Verteilungssystem der Öl- und Gas-Milliarden an Stammesführende und Regierungsanhänger sicherte Macht und Stabilität – und brachte gleichzeitig Korruption und Mißwirtschaft mit sich. Wie überall in Arabien. Kritik an den Zuständen war faktisch verboten. Doch das Regime gab sich in den letzten Jahren zunehmend konziliant. Dem friedlichen Oppositionellen blieb so immer noch der Gang ins Exil.

Die tiefen Ursachen für das Aufbegehren der Cyrenaika liegen auch an ihrer politischen Abseitsposition. Das Hauptaugenmerk Gaddafis lag auf dem Westen – dort, wo die Mehrheit der Libyer zu Hause ist.

Und die Islamisten störten sich vor allem daran, daß Gaddafi mit dem „Grünen Buch“ eine Art Gegenstück zum Koran schuf. Jeder Mensch, so Gaddafi, solle seine eigene Interpretation des Islam finden, abhängig von den individuellen Lebensumständen. Die Imame sollten nicht mehr das letzte Wort haben. So handelte sich der libysche Revolutionsführer weithin den Ruf eines Ketzers ein. Im stärker weltlich orientierten Westen Libyens war dagegen vor allem in jüngster Zeit die Wut über die massive Zunahme schwarzafrikanischer Einwanderung gewachsen.

Gaddafi, enttäuscht über das Scheitern arabischer Einheit, suchte sein Heil im „afrikanischen Nationalismus“. „König der Könige von Afrika“ – ein selbstbewußter Schwarzer Kontinent, ohne Bevormundung aus dem Westen, das schwebte ihm vor. Die arbeitslose Jugend Libyens machte das vermeintliche Ausbluten ihrer Heimat und die gefühlte Überfremdung aus dem Süden dagegen wütend. Vom selbsternannten Symbol des afrikanischen Nationalismus wollte sie nichts mehr wissen. Gaddafi wurde zum Gejagten. Zurück bleibt die Frage, ob dem afrikanischen Nationalismus der nordafrikanische Islamismus folgen wird. Die Worte des Vorsitzenden des Übergangsrats Mustafa Abdul Dschalil nach Einführung der Scharia als Rechtsgrundlage sowie die Gründung von islamischen Banken, die keine Zinsen verlangen dürfen, sprechen eine deutliche Sprache.

Wer die Einheit nach innen am ehesten zu garantieren vermag, scheint sich in Tunesien abzuzeichnen: Islamisten, die wahren Sozialrevolutionäre Arabiens.

Foto: Vorwegnahme des Schicksals Muammar Gaddafis: Demonstranten in Bengasi fordern den Tod des Revolutionsführers (Mai 2011)

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