© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/11 / 28. Oktober 2011

Pankraz,
F. Kittler und der Sieg der Hardware

Derart viel Krawall und Herumgezappel – und so wenig, was dabei herauskommt! Das ist die allgemeine Einschätzung der gegenwärtigen Geisteslage. Faktisch jeden Tag gibt es eine neue „Revolution“, jeden Tag ist die Abendschau voll von Gebrüll und Fahnenschwenken, aber sonst tut sich nichts, keine neuen Strukturen, keine neuen Einfälle, geschweige denn wirkliche Ideen. Sogar die Kleidermode ist müde geworden, dreht sich im Kreise, wärmt nur noch Entwürfe von gestern und vorgestern auf. Woher kommt das?

Pankraz, wenn er ein Mantra dafür formulieren müßte, würde sagen: Das ist der Sieg der Hardware über die Software, der Arbeitsgeräte über die Arbeit, der Denkhilfen über das Denken. Früher wollten die Jungen, die ihre Lebensenergien entfalteten, Resultate sehen, prächtige Neubauten, heute interessieren sie sich nur noch für Baugerüste. Ein neuer „Link“ ist ihnen wichtiger als das, was er anzeigt, das Verfassen einer SMS wichtiger als die Botschaft, die sie transportiert. Sie spielen mit ihren iPhones herum, und die reale Welt gerät ihnen dabei aus dem Blick.

Die Entwickung findet ihre Parallelen in den Wissenschaften. Philosophie wurde vielerorts ersetzt durch „Medienwissenschaft“, der Tinte wird nun mehr Aufmerksamkeit gewidmet als dem, was mit ihr aufgeschrieben steht. Ein Buch des vorige Woche verstorbenen Berliner Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler heißt „Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“. Mit Leidenschaft (wenn auch in durchweg unklarer Diktion) betrieb der Mann sein Leben lang die Aufwertung der „Aufschreibsysteme“. Wichtig war ihm nicht, was einer schrieb, wichtig war ihm, womit er schrieb.

Nun wird kein Nachdenklicher bestreiten, daß die technischen Mittel, mit deren Hilfe wir kommunizieren, unseren Stil beeinflussen. Erinnert sei an die Einführung der Schrift, des wohl folgenreichsten dieser Kommunikationsmittel, und an die Debatten, die im alten Griechenland darüber geführt wurden. Es gab die erbittertsten Widerstände, zum Beispiel von dem großen Sokrates. Der sah von Anfang an glasklar: Bei weitem nicht alles, was sich leichthin sagen läßt, läßt sich mit gleicher Leichtigkeit aufschreiben.

Die Schrift nimmt der Sprache viel von ihrer Nuancenhaltigkeit, sie dünnt sie aus und mindert ihre kommunikative Kraft. Mindestens fünfzig Prozent des Bedeutungsgehalts einer sprachlichen Kommunikation, vermuten die Linguisten, verdanken sich der aktuellen „Sprechsituation“, liegen im spontanen Mitbedenken der unmittelbar waltenden sozialen Verhältnisse und ergeben sich nicht zuletzt aus den Klängen, Tonhöhen und gestengestützten Andeutungen der Sprechenden. Auch der größte Sprachmeister kann sie nicht ohne Verlust in Schrift übertragen.

Im Vergleich dazu nehmen sich die Vorteile, welche die Schrift bietet, beinahe bescheiden aus, besonders seit es Telefone gibt und sofortige Sprechverbindungen in faktisch alle Teile der Welt fast selbstverständlich sind. Aber immerhin: Da das Zeichenarsenal eines Schriftsatzes notwendig geringer ist als das einer gesprochenen Rede, wächst jedem einzelnen Schriftzeichen hohe Wichtigkeit zu. Was geschrieben steht, ist verbindlicher und archivhaltiger, das meint: konsequenzenreicher als jedes gesprochene Wort. Es kann weniger schnell zurückgenommen oder korrigiert werden.

Gänzlich absurd ist aber die Behauptung Kittlers und anderer Medienwissenschaftler, daß unsere technischen Kommunikationsgeräte unser Denken und Fühlen entscheidend prägten, daß es also ein „medientechnisches Apriori“ gebe, von dem alles abhänge. Am wenigsten trifft das auf das Internet und die übrigen elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten zu, obwohl sie ja tatsächlich tief in das moderne Leben eingegriffen haben und inzwischen weite Strecken des Alltags bestimmen.

Sokrates, dem spontanen Sprechen an sich sehr zugeneigt, hätte sein Haupt verhüllt beim Studium der sogenannten 2.0-Kultur. Sie ist vielleicht dialognäher und temperamentvoller als die herrschende Schriftkultur, weniger von Behördendeutsch und politischen Tabus verunziert, aber gleichzeitig ist sie um ein Vielfaches gröber, unpräziser und geschwätziger. Man denkt weniger nach und feilt weniger an seinen Formulierungen. Das völlig Unwichtige überspült und zerstört das wirklich Wichtige und Belangvolle. Gefeiert wird der Sieg der Redundanz über die Information.

Was dabei herauskommt, erleben wir gerade in diesen Tagen. Man betrachte nur die Rolle von Twitter bei den öffentlichen Zusammenballungen des „Arabischen Frühlings“! Mit den erlaubten 140 Zeichen ließen sich zwar – worauf man seitdem wahnsinnig stolz ist – ziemliche Massen junger Leute in Bewegung setzen, doch als die dann beisammenstanden, wußten sie nicht, was sie wirklich mit sich anstellen sollten. Die 140 Twitter-Zeichen selbst, so stellte sich heraus, waren die eigentliche Botschaft gewesen.

Trostreich immerhin, daß zumindest die Medienwissenschaft von ihrer Verherrlichung der Hardware jetzt vorsichtig wieder abzurücken beginnt. Das eindrücklichste Beispiel dafür lieferte ausgerechnet Friedrich Kuller, der sich in seinen späteren Jahren (er starb mit 68) immer mehr der klassischen Philosophie zuzuwenden begann. Er versuchte, im Stil Heideggers den Vorsokratikern nachzudenken, vor allem dem Pythagoras, dozierte über Musik und Mathematik.

„Wie wir wissen und nur nicht sagen, schreibt kein Mensch mehr“ hatte er noch 1993 in seinem Thesenbüchlein „Es gibt keine Software“ dekretiert, „heute läuft menschliches Schreiben mittels Elektronenlithographie, in Silizium eingebrannt (…) Letzter historischer Schreibakt mag es folglich gewesen sein, als in den späten Siebzigern ein Team von Intel-Ingenieuren die Hardware-Architektur ihres ersten integrierten Mikroprozessors aufzeichnete.“

Von solchen Tönen war im Spätwerk von Kittler kaum noch etwas zu hören. Die Software hatte sich machtvoll zu Wort gemeldet.

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