© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/11 / 04. November 2011

„Das war erst das Vorspiel“
Einwanderung: Eine Veranstaltung der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung feiert das deutsch-türkische Anwerbeabkommen
Lion Edler

Als am 31. Oktober 1961 das Anwerbeabkommen für türkische Arbeitnehmer zwischen Deutschland und der Türkei unterzeichnet wurde, haben sich viele das 50jährige Jubiläum vermutlich etwas anders vorgestellt: Bei der Veranstaltung „Vom Gastarbeiterland zum Einwanderungsland“ der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung kam nur phasenweise Feierstimmung auf. Angesichts wachsender Integrationsprobleme geriet die Konferenz streckenweise zur Daueranklage gegen das Aufnahmeland.

Diese selektive Perspektive wurde schon bei den Zeitzeugengesprächen zu Beginn der Veranstaltung deutlich. Der aus der Türkei nach Deutschland eingewanderte Psychologe Kazim Erdogan beklagte, Berlin sei 1974 „offener, verständnisvoller, toleranter“ gewesen als heute. Das Wort Integration ist für ihn mittlerweile zu einem Schimpfwort geworden, die Debatten darüber ein Rückschritt. Überhaupt: Man habe „das Thema Integration auf gute oder schlechte Deutschkenntnisse reduziert. Das ist verrückt!“ Denn: Er kenne Einwanderer, die akzentfrei deutsch sprechen, die jedoch einen Gottesstaat wollen. Diesen bescheinige man, gut integriert zu sein, weil Sprachkenntnisse „die einzige Meßlatte“ seien. Andere dagegen identifizierten sich mit der Demokratie, der Verfassung und den deutschen Gesetzen, könnten jedoch nicht gut deutsch sprechen. Diesen bescheinige man dann, schlecht integriert zu sein. Immerhin, so ganz unwichtig findet Erdogan das Erlernen der deutschen Sprache dann doch nicht, zumal man dies notfalls auch nach längerer Zeit noch nachholen könne. „Nie ist zu spät“, findet der seit 1974 in Deutschland lebende Erdogan.

Gefeierte Galionsfigur der Veranstaltung war der türkischstämmige Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir, der noch am selben Tag in die Türkei flog, um dort ebenfalls mehrere Feiern zum 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens zu besuchen. Das Jubiläum ist für Özdemir nicht nur ein Anlaß, „innezuhalten, zurückzublicken, sondern auch Danke zu sagen“. Er machte allerdings deutlich, daß er damit nur den Dank an die Einwanderer meint.

Nach seinem Exkurs in die Geschichte des Abkommens blickte Özdemir nach vorn und sagte, er hätte sich „gewünscht, daß wir bei der doppelten Staatsbürgerschaft großzügiger sind. Aber was nicht ist, kann ja noch werden“. Doch dann schlug Özdemir plötzlich einen anderen Ton an. „Natürlich“, sagt er, müsse man „auch darüber reden, daß es Versäumnisse gab“. Die solle man jedoch „nicht nur bei anderen suchen, sondern auch im eigenen Bereich“.

„Der Ehrlichkeit halber“ müsse auch gesagt werden, daß man „in Teilen das Thema Gewalt, Macho-Rollenverständnis, Gender-Probleme auch nicht entschieden genug angepackt und angesprochen hat“.

Auch die nachfolgende Podiumsdiskussion bot wenig Zahlen und Fakten, dafür um so mehr Bekenntnisse und Gefühle. Als „außerordentlich eindrucksvoll“ habe sie es empfunden, „mitzufühlen“, wie die für die Zeitzeugengespräche ausgewählten Einwanderer ihre Biographie schilderten, sagte die Bundesintegrationsbeauftragte Maria Böhmer (CDU). Wichtig für die Integration sei vor allem, daß die Einwanderer „nicht zurückgestoßen“ werden. Und dann schwärmt Böhmer, die an keiner Stelle mit dem Grünen-Mann Özdemir in politischen Streit geriet, von den Biographien der präsentierten Vorzeige-Einwanderer. „Das sind die neuen deutschen Geschichten, die hier erzählt werden, und ich glaube, daß sie das Bewußtsein verändern können.“ Wichtig sei auch die Frage: „Wie schaffen wir ein gemeinsames Wir-Gefühl, daß wir verstehen, wir gehören zusammen.“ Sie sei zudem „sehr dafür“, daß es künftig mehr Lehrer mit Migrationshintergrund gebe, damit diese als „Brückenbauer“ fungieren könnten.

Die Publizistin und ehemalige Bundestagsabgeordnete Lale Akgün (SPD) erklärte, die bisherige Einwanderung sei erst das „Vorspiel“. Denn wegen der „gigantischen Alterungswelle“ in Deutschland in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren werde es nun auch „eine gigantische Einwanderungswelle geben müssen“. Mit weiteren Festveranstaltungen ist also zu rechnen.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen