© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/11 / 04. November 2011

„Auch die Barbaren haben eine Zivilisation“
Der Zusammenstoß mit dem Westen leitete 1840 den Untergang des chinesischen Kaiserreichs ein / Erster Teil
Peter Kuntze

Im Zuge aufwendiger Restaurierungsarbeiten werden in Peking immer häufiger alte Gassen und Quartiere zu neuem Leben erweckt – so auch die Straße Xianyu („Frischer Fisch“), die auf eine Tradition von 570 Jahren zurückblicken kann. Die Xianyukou, einst aus dem kulinarischen Leben der alten Kaiserstadt nicht wegzudenken, konnte im Mai 2011 der Öffentlichkeit übergeben werden. Das Interesse an den in neuem Glanz erstrahlenden Traditionsläden und altehrwürdigen Handelsmarken ist gewaltig; so schieben sich durch das wiedererstandene Qianmen-Viertel gleich neben dem Platz des Himmlischen Friedens täglich Tausende von Besuchern, um einen Eindruck von einem der bekanntesten Geschäftszentren des alten Peking zu gewinnen.

Was wie Nostalgie anmutet, ist in Wahrheit die Rückbesinnung auf die Vergangenheit – im stolzen Bewußtsein, daß China jetzt dort wieder anknüpft, wo es vor rund zweihundert Jahren auf seinem politischen und kulturellen Höhepunkt gestanden hatte, ehe 1840 mit dem von Großbritannien ausgelösten Opiumkrieg der bittere Niedergang begann. Vor jener Zäsur, die das Land bis in die achtziger und neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts traumatisiert hat, war das einstige „Reich der Mitte“ – nicht nur in seinem Selbstverständnis – das wohl mächtigste Land der Erde gewesen: Ihm gehörten die Mandschurei und Ostturkestan, es war Schutzherr der Mongolei und Tibets, sein Einflußbereich umfaßte sowohl Japan als auch Hinterindien, mithin den gesamten Südosten Asiens. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein galt China in Europa als vorbildlich organisierter und regierter Staat, dessen Kultiviertheit Philosophen wie Christian Wolff sowie Voltaire und andere Verfechter der Aufklärung bewunderten.

Doch der Zusammenprall mit der weit überlegenen Waffenkraft des Westens erschütterte das seinerzeit so selbstsichere und überheblich gewordene Land in seinen Grundfesten, auch wenn der Drachenthron die Augen vor der Realität verschließen wollte. Kuo Sung-tao, Chinas erster Gesandter in Großbritannien, wagte es 1876, die Wahrheit auszusprechen: „Die heutigen Barbaren sind anders als die früheren; sie haben ebenfalls eine Zivilisation von zweitausend Jahren“, berichtete er in die Heimat. Diese Bemerkung löste einen so großen Sturm der Entrüstung aus, daß seine Sätze verboten und die Druckstöcke verbrannt werden mußten.

Die Wahrheit ließ sich jedoch nicht länger verheimlichen. Zu offensichtlich war die Welt ganz anders, als es Kaiser und Mandarine sich und ihren Untertanen über Jahrhunderte eingeredet hatten: „Das Reich der Mitte ist auf der großen Erde nur einer von 56 Staaten“, erklärte 1898 der Intellektuelle Mai Meng-hua. „Die große Erde“, so belehrte er seine perplexen Landsleute, „ist innerhalb des Sonnensystems. nur einer von 249 Planeten. Die Sonne mit ihren Sternenhaufen, Sternennebeln und Sternenkomplesen ist innerhalb des Himmelraumes von den in zahllosen Milliarden von Feldern stehenden Fixsternen nur einer. Und unser Himmelsraum ist im unendlichen All auch nur einer von einer unzählbaren, unausdenkbaren Zahl.“ Mit dieser Sicht der Dinge, in Europa seit der Kopernikanischen Wende geläufig, ließ Mai Meng-hua eine Welt zusammenbrechen, deren stolzer Mittelpunkt seit nahezu dreitausend Jahren ununterbrochen und unangefochten China gewesen war – das von angeblich primitiven Barbaren umgebene „Reich der Mitte“, regiert von einem Herrscher, der als „Sohn des Himmels“ auf dem Drachenthron saß.

Das Eindringen westlicher Ideen, besonders aber der westlichen Truppen führte dem in konfuzianischen Riten erstarrten Land seine geistige und materielle Ohnmacht vor Augen: Bis 1900 war das Kaiserreich auf den Status einer Halbkolonie zurückgefallen; zu jener Zeit konnte China, das einst Papier, Schießpulver und Kompaß erfunden hatte, nicht einmal Streichhölzer herstellen, sondern mußte sie als yanghuo, als „ausländisches Feuer“ importieren. Die Reaktionen auf diese nationale Schmach waren vielfältig. So versuchte eine christlich-kommunistische Sekte in einem vierzehn Jahre dauernden Aufstand das konfuzianische Regierungssystem zu stürzen und durch ein „Himmlisches Reich des Ewigen Friedens“ zu ersetzen. Doch der Taiping-Aufstand, der geschätzte zwanzig Millionen Todesopfer forderte, wurde 1864 blutig niedergeschlagen.

Unterdessen hatte es auch am Kaiserhof zahlreiche Überlegungen gegeben, wie man der ausländischen Herausforderung am besten begegnen könne. Die einen empfahlen die Übernahme lediglich der Waffen und der Militärtaktik des Westens, andere gingen einen Schritt weiter und plädierten für den kompletten Aufbau einer modernen Industrie, um den imperialistischen Mächten Paroli zu bieten und Chinas Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Zu welchem Ergebnis die jeweiligen kaisertreuen Kreise auch kamen, ein Ziel einte sie alle: Die mehr als zweitausendjährige konfuzianische Ordnung mußte in jedem Fall aufrechterhalten werden. Doch genau das war die Crux: Würde nicht die Industrialisierung die traditionelle Agrarstruktur zerstören? Würden nicht ganze Berufsstände vernichtet werden? Würde nicht die soziale Hierarchie durch den zwangsläufigen Aufstieg des bislang wenig geachteten Kaufmannsstandes und den Abstieg der Beamten-Gelehrten auf den Kopf gestellt werden?

Einigen Denkern war durchaus bewußt, daß es aus diesem Dilemma kaum einen Ausweg gab, daß das Risiko aber gleichwohl eingegangen werden mußte. Bei der Übernahme westlicher Methoden, so befürchteten viele, würden zwangsläufig auch die politischen und philosophischen Ideen des Auslandes importiert werden und die geistige Substanz des Konfuzianismus unterminieren. Ihnen ging es damals so wie Jahrzehnte später Deng Xiaoping, dem Wegbereiter des bis heute so überaus erfolgreichen Staatskapitalismus der Volksrepublik.

Als Deng 1978 – zwei Jahre nach dem Tod Mao Zedongs – die Reform- und Öffnungspolitik einleitete, machte er seinen Genossen klar, wer China voranbringen wolle, müsse die Fenster zum fortschrittlichen Westen öffnen. Das aber werde unvermeidlich dazu führen, daß dann auch „Fliegen und anderes Ungeziefer ins Haus kommen“. Um die Stabilität des (nur noch nominell) kommunistischen Systems zu gewährleisten, legte Deng seinen Nachfolgern daher ans Herz, den Öffnungsprozeß strikt unter Kontrolle zu halten; im Gegensatz zu den Konfuzianern hundert Jahre zuvor ist ihnen das bisher ganz offensichtlich gelungen.

 

Peter Kuntze, Autor mehrerer Bücher über China, war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“.

Foto: Besuch des Prinzen Heinrich von Preußen beim Kaiser von China, Peking 1898: Status einer Halbkolonie

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