© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/11 / 04. November 2011

Spätfolgen an Leib und Seele sind die Regel
Materialsammlung gegen die Ewiggestrigen: Die Soziologin Sibylle Plogstedt hat die Erfahrungen vieler hundert politischer Häftlinge aus der DDR aufbereitet
Detlef Kühn

Ein hieb- und stichfestes wissenschaftliches Werk ist das voluminöse Buch der Soziologin Plogstedt mit dem reißerischen Titel aus dem Häftlingsjargon sicherlich nicht. Eher ein Steinbruch, aus dem sich jeder bedienen kann, der nach Material zur Darstellung all dessen sucht, was nach 1990 in der Aufarbeitung der DDR-Vergangeheit nicht zufriedenstellend gelaufen ist.

Die Zahl derer, die nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR aus politischen Gründen inhaftiert wurden, wird allgemein auf etwa 200.000 geschätzt. 802 Männer und Frauen hat die promovierte Soziologin mit Hilfe eines detaillierten Fragebogens nach Hafterlebnissen, gesundheitlichen und sozialen Folgen der Haft, Haftentschädigungen und persönlichen Befindlichkeiten und Einschätzungen befragt. Fragen und Antworten beziehen sich nicht nur auf die Zeit nach der Wiedervereinigung, zumal etwa die Hälfte der befragten Gefangenen nach der Haft in der DDR verblieb. Das relativ kurze Kapitel über „Soziale Unterschiede zwischen den Häftlingen“ bringt wichtige Hinweise zur Erklärung mancher Auffälligkeiten. Jedenfalls ist der Untertitel des Buches viel zu eng gefaßt. Das so gewonnene Material wird in 130 Grafiken und Tabellen zusammengefaßt, die über das Buch verteilt sind. Die Literatur eines Verzeichnisses von sechs eng bedruckten Seiten ist im Text offenbar nur selten benutzt worden. Bei den spärlichen Fußnoten stützt sich die Autorin meist auf Angaben im Internet.

Die Antworten der 802 ehemaligen Häftlinge oder ihrer Angehörigen werden ergänzt durch Auskünfte dreier „Expertinnen“, die Erfahrungen in der Betreuung von Häftlingen gesammelt haben, sowie durch protokollierte Gespräche mit 25 Männern und Frauen, darunter ebenfalls Angehörige, die ausführlich über ihre Erlebnisse, Gefühle und Bewertungen berichten. Deren Äußerungen nehmen etwa 200 Seiten des Buches ein. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, stehen sie mit ihrem Namen für ihre Darstellungen ein. Eine der anonymen Ausnahmen ist – wie üblich, muß man leider sagen – der Zuträger eines westlichen (französischen) Geheimdienstes, der wahrscheinlich zu den wenigen gehörte, die sich bei ihrer Form des Widerstands sinnvolle Gedanken gemacht haben. Er wollte das System im Kern treffen. Dieser Teil des Buches ist zweifellos der am besten lesbare.

Er zeigt vor allem, daß sich hinter dem Sammelbegriff „politische Häftlinge“ ganz unterschiedliche Taten, Motivationen und Erlebnisse verbergen: Von aktivem, politisch begründetem Widerstand über religiöse Beweggründe (Zeugen Jehovas) bis zu unpolitischem jugendlichem Übermut und allgemeiner Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in der DDR. Diese Schilderungen werden von Sibylle Plogstedt durch eigene Zusammenfassungen ergänzt. Häufig mangelt es dabei an chronologischer Kontinuität der Darstellung. Die mitgeteilten Erinnerungen sind nicht immer plausibel. Dennoch kann ein Leser, der die DDR nicht mehr selbst erlebt hat, manches über das System und den Alltag dort, vor allem natürlich im Strafvollzug, erfahren.

Ausführlich erörtert die Autorin die heutigen gesundheitlichen und finanziellen Verhältnisse ihrer Interviewpartner. Im Werbetext auf dem Buchumschlag wird mitgeteilt, sie habe „festgestellt, daß die Helden und Heldinnen von einst heute in Armut leben“. Allerdings hat sich kaum einer der Befragten als „Held“ empfunden, die meisten jedoch – völlig zu Recht – als Opfer eines Willkür- und Unrechtssystems. Deshalb freuen sie sich auch über die „Opferrente,“ die sie seit einigen Jahren erhalten, auch wenn 53 Prozent der Befragten gern etwas mehr als die derzeit gezahlten 250 Euro pro Monat gesehen hätten. Fraglich ist, ob man die Ergebnisse der Untersuchung einfach auf alle ehemaligen politischen Häftlinge in der DDR hochrechnen darf. Es scheint, als wären die Befragten vor allem durch die Häftlingshilfestiftung und durch Opferverbände vermittelt worden. Das könnte manche Ergebnisse etwas verzerrt haben.

Dennoch ist klar: Eine längere Haftzeit aus politischen Gründen in DDR-Gefängnissen hat kaum jemand einfach „weggesteckt“. Mehr oder weniger ausgeprägte gesundheitliche Beeinträchtigungen physischer oder psychischer (im Haftslang als Knastmauke bezeichnet) Art sind die Regel. Ob das nur durch mehr öffentliche Geldzahlungen auszugleichen ist, wäre zu diskutieren – auch wenn man Geld natürlich immer gebrauchen kann. Oft hilft schon mehr gesellschaftliche oder private Anerkennung und Würdigung der erlittenen Erlebnisse. „Helden und Heldinnen“ konnten die wenigsten der hier angesprochenen Personen sein; aber – um den Jargon des Buchtitels fortzuführen – „arme Schweine“ waren sie alle, die in die Fänge eines unmenschlichen Systems geraten waren, das sie sich praktisch nie aussuchen konnten.

Sibylle Plogstedt: Knastmauke. Das Schicksal von politischen Häftlingen der DDR nach der deutschen Wiedervereinigung. Psychosozial-Verlag, Gießen 2010, broschiert, 472 Seiten, 32,90 Euro

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