© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/11 / 11. November 2011

„Die Republik ist der Wille des Himmels“
Vor hundert Jahren mußte die mandschurische Qing-Dynastie nach fast 270 Jahren abdanken / Zweiter Teil und Schluß
Peter Kuntze

Ausgangspunkt aller Bestrebungen, das durch die Invasion westlicher Imperialmächte um 1860 zu einer Halbkolonie degradierte chinesische Kaiserreich zu retten, war die Reform des Bildungssystems. Nahezu zweitausend Jahre lang hatte in staatliche Ämter nur gelangen können, wer zuvor die traditionellen Prüfungen absolviert hatte. Sie konzentrierten sich im wesentlichen auf das Auswendiglernen der konfuzianischen Grundtexte, das Abfassen von Gedichten und klassischen „achtfüßigen“ Essays sowie auf die Ausbildung kalligraphischer Fertigkeiten. Dieses System, das mehr Wert auf Gedächtnisleistung als auf Praxis und selbständiges Denken legte, war völlig ungeeignet, Ärzte und Ingenieure, Verwaltungsbeamte und tüchtige Facharbeiter hervorzubringen – Berufe, die zur Modernisierung des Landes unerläßlich waren.

Im Jahr 1895 schlug der spätere Reform-Minister Kang Yu-wei (1858–1927) dem Kaiser daher vor, die inzwischen in einigen Provinzen nach westlichem Vorbild errichteten Schulen und Colleges anzuerkennen und ihre neuen Unterrichtsfächer zu den Prüfungen zuzulassen. Doch Kang ging noch einen Schritt weiter, indem er den Konfuzianismus uminterpretierte: Während der Han-Zeit (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) waren Kang zufolge die Texte des Konfuzius verfälscht worden; in Wahrheit nämlich sei „Meister Kung“ ein Reformer gewesen, der die Geschichte nicht als ewigen Kreislauf, sondern als dynamischen Prozeß verstanden habe, der auf eine endzeitliche Ordnung, die „Große Gemeinschaft“ (tatung), hinauslaufe.

Damit, so der deutsche Sinologe Peter J. Opitz, legitimierte Kang Yu-wei nicht nur die Reformierung Chinas nach westlichem Vorbild, sondern machte sie sogar zur Pflicht jedes wahren Konfuzianers. Zunächst schien es, als würde sich diese Konzeption allen Widerständen zum Trotz durchsetzen, denn der junge Kaiser Kuang-hsü ernannte Kang 1898 zum Sekretär des Regentschaftsrates und verschaffte dessen Anhängern einflußreiche Positionen.

Kang, besonders von den nach westlichem Beispiel eingeleiteten Meiji-Reformen in Japan beeindruckt, veranlaßte sofort tiefgreifende Veränderungen in Verwaltung, Wirtschaft und Erziehungswesen. Doch der westliche Kapitalismus, der innerhalb weniger Jahrzehnte wie eine Naturgewalt über China gekommen war, hatte so verheerende Folgen, daß die Reformbestrebungen zu spät kamen: Billige Industriewaren zerstörten Handwerk und Gewerbe, auf dem Land sank der Lebensstandard, und in den Küstenstädten bildete sich ein Proletariat, zu dessen Wortführern sich revolutionäre Intellektuelle aufschwangen, die nach dem Studium in Europa oder Japan in die Heimat zurückgekehrt waren.

Bereits nach hundert Tagen war das Reform-Intermezzo beendet. Denn auch am Kaiserhof hatte sich längst eine Opposition formiert. Hier waren es die Konservativen, die nicht nur um die reine Lehre des Konfuzianismus fürchteten, sondern nicht minder um Pfründe, Macht und Einfluß. An die Spitze der Verschwörer stellte sich die im Volk verhaßte Kaiserin-Mutter Ci Xi. Sie unterstützte einen Staatsstreich, in dessen Verlauf ihr Sohn gefangengesetzt und die meisten Reformer verhaftet und hingerichtet wurden; nur Kang Yu-wei konnte mit wenigen Getreuen nach Japan fliehen. Von dort aus bereitete er sich auf die Rückkehr nach China vor, um den Reformprozeß fortzusetzen.

Doch bald mußte Kang erkennen, daß es den meisten Oppositionellen nicht mehr um die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie ging; vielmehr forderten sie, wie es im Programm einer ebenfalls von Japan aus agitierenden Gruppe um den Arzt Sun Yat-sen (1866–1925) hieß, „die Vertreibung der Mandschu aus China und die Proklamation einer demokratischen Republik“.

Für das Kaiserreich war die Lage unterdessen innen- und außenpolitisch immer prekärer geworden: 1895 besiegte das kleinere, aber modernisierte Japan das „Reich der Mitte“, das die Insel Taiwan (Formosa) an Tokio abtreten mußte. Fünf Jahre später unterstützte die Kaiserin-Mutter Ci Xi die „Boxer“ – eine Geheimsekte, die sich gewaltsam gegen die Fremden im Land zur Wehr setzte. Der Aufstand wurde jedoch von einem gemeinsamen Expeditionskorps der Kolonialmächte niedergeschlagen, die dem Drachenthron weitere Konzessionen abverlangten und ihm demütigende Bedingungen wie hohe Entschädigungszahlungen und die Entsendung eines „Sühne-Prinzen“ nach Berlin diktierten. Ci Xi resignierte. Zum offiziellen Nachfolger des Kaisers bestimmte sie Pu Yi, den zweijährigen Neffen ihres Sohnes; die Amtsgeschäfte führte nun Prinz Chun.

Wegen der Finanznot der Regierung konnten von Chun in letzter Minute eingeleitete Reformvorhaben indes nicht mehr verwirklicht werden. Erfolgreicher war Sun Yat-sen, der als „erster Berufsrevolutionär Asiens“ gilt. Sun, bis heute von Nationalisten wie Kommunisten gleichermaßen als Vorläufer verehrt, gründete die Kuomintang, die nationale Volkspartei, die sich auf die „Drei Prinzipien des Volkes“ stützte: Nationalismus ( Wiederherstellung der Unabhängigkeit Chinas), Sozialismus (Abschaffung des Feudalismus durch Bodenreformen) sowie Demokratie (Präsidialsystem nach US-Vorbild).

Als sich Chinas Südprovinzen im Oktober 1911 zusammenschlossen und zur unabhängigen Republik erklärten, traf dieser Ausbruch der Revolution Suns Anhänger indes völlig unvorbereitet. Schließlich gelang es ihnen aber, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen.Am 1. Januar 1912 rief Sun Yat-sen in Nanking die „Republik China“ aus und ließ sich zum provisorischen Präsidenten wählen. Schon im Februar jedoch trat er das Amt an Yuan Schi-kai ab, einen früheren kaiserlichen Marschall, der bald darauf das Parlament auflöste, sich zum Diktator aufschwang und eine eigene Dynastie gründen wollte.

Yuan starb 1916, doch nun versank China endgültig im Chaos. Aufstände, Krieg und Bürgerkrieg verheerten das Land, bis 1949 die Kommunisten die Macht eroberten. Sie traten die Nachfolge der Qing an, die seit 1644 regiert hatten und in deren Abdankungsurkunde es am 12. Februar 1912 hieß: „Es ist offensichtlich, daß die Mehrheit des Volkes die Errichtung einer republikanischen Regierungsform wünscht. Der allgemeine Wunsch bringt deutlich den Willen des Himmels zum Ausdruck, und es steht uns nicht an, diesen Bestrebungen entgegenzustehen, Ich, die Kaiserin-Witwe, zusammen mit dem Kaiser, trete hiermit die höchste Staatsgewalt ab.“

Es mutet wie eine Ironie der Geschichte an, daß aus dem letzten Jahrhundert der Wirren, des Chaos und der nationalen Ohnmacht und Erniedrigung letztlich der Konfuzianismus als eigentlicher Sieger hervorgegangen ist. Als Ersatz für den längst unglaubwürdig gewordenen Kommunismus haben Pekings rote Mandarine die Lehren des „Meisters Kung“ rehabilitiert und richten überall auf der Welt Konfuzius-Institute ein, um für Kultur, Sprache und Geschichte des wieder zur Weltmacht aufgestiegenen einstigen „Reichs der Mitte“ zu werben.

 

Peter Kuntze, Autor mehrerer Bücher über China, war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“.

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