© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/11 / 18. November 2011

„Das ist Terror“
Er war der Chefankläger der Bundesrepublik Deutschland und bekämpfte den Terror der RAF. Der ehemalige Generalbundesanwalt Alexander von Stahl über den Fall „Nationalsozialistischer Untergrund“.
Moritz Schwarz

Herr von Stahl, handelt es sich bei der Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) um eine „Braune Armee Fraktion“, wie etwa der „Spiegel“ titelt?

Stahl: Das läßt sich zur Zeit schwerlich beantworten, denn noch sind zu viele Details ungeklärt.

„Rote Armee Fraktion war der ... Versuch einer Minderheit, zur Umwälzung der ...Verhältnisse“, lautet die Selbstdefinition der RAF-Auflösungserklärung von 1998.

Stahl: Die RAF hat Geiseln genommen und Morde an Repräsentanten des „ausbeuterischen Kapitalismus“ begangen. In Bekennerschreiben hat sie ihre Verbrechen im nachhinein als notwendig gerechtfertigt, um die Gesellschaft in ihrem Sinne revolutionär nach links zu verändern. Im Falle der NSU gibt es entsprechende Veröffentlichungen offenbar bisher nicht. Die DVDs mit dem Bekennervideo tauchten ja erst bei den Durchsuchungen der abgebrannten Wohnung der Täter durch die Polizei auf – und das, obwohl die Ermittler laut Spiegel davon ausgehen, daß der Film bereits 2007 produziert wurde. Das heißt, die offensichtlich ausländerfeindlichen Motive und Ziele der Täter blieben verborgen.

Ist das also nun Terrorismus oder nicht?

Stahl: Nach dem allgemeinen politischen Verständnis dienen dem Terroristen seine begangenen Straftaten als Mittel zum Zweck, die Welt oder die Gesellschaft in seinem Sinne zu verändern, und er bekennt sich deshalb dazu. Das ist hier nicht geschehen. Dieser Umstand spricht gegen die Einordnung der Taten unter den politischen Begriff des Terrorismus. Aber: Das Strafrecht verlangt nach Paragraph 129a, Absatz 1 Strafgesetzbuch keine über die Tat hinausgehenden Ziele, wenn eine Vereinigung gegründet wird, deren Zweck darauf gerichtet ist, Morde zu begehen. Erst bei geringeren Straftaten nach Absatz 2 spielen die mit den Straftaten verfolgten Ziele der Täter eine relevante Rolle. Deshalb ist strafrechtlich beim NSU von einer terroristischen Vereinigung auszugehen, und deshalb ist auch die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft für die Strafverfolgung begründet.

„Töte einen, erschrecke Tausende“ soll angeblich der antike, chinesische Stratege Sun Tsu gefordert haben. Und der Terrorismus-Experte Franz Wördemann meint: „Der Terrorist will das Denken besetzen.“

Stahl: Im Prinzip hat Wördemann natürlich recht. Aber hier sind die von den Tätern möglicherweise erhofften Folgen ausgeblieben. Die Mordserie hat ohne Bekennerschreiben nicht dazu geführt, daß Ausländer aus Furcht vor weiteren Anschlägen die Bundesrepublik verlassen haben.

Die Haupttäter haben sich mutmaßlich durch Selbstmord der Verhaftung entzogen. Ist das nicht ungewöhnlich für Terroristen, die es doch normalerweise darauf anlegen, notfalls im Feuergefecht getötet zu werden, um als Märtyrer zu gelten oder aber sich, in der Hoffnung auf ihre Unterstützerszene, verhaften lassen?

Stahl: Das stimmt, aber daß das in diesem Fall anders ist, besagt nicht, daß es sich nicht um Terroristen handelt. Es sind viele Gründe für ihre Entscheidung zum Selbstmord denkbar.

Die Täter kamen aus dem Umfeld der rechtsextremen Gruppierung „Thüringer Heimatschutz“, der aber offenbar in erheblichem Umfang mit Informanten des thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz durchsetzt war. Hätte der Verfassungsschutz also nicht Bescheid wissen müssen?

Stahl: Ob die Verfassungsschutzbehörden Fehler gemacht, etwa indem sie gewisse Zusammenhänge nicht gesehen oder unterschätzt haben, kann nur die Zukunft zeigen – da will ich nicht spekulieren. Natürlich ist es möglich, denn wo Menschen sind, passieren Fehler. Aber diese ohne handfeste Belege nun als ernsthafte Vermutung in den Raum zu stellen oder gar als Tatsache zu unterstellen, das ist nicht seriös.

Beim letzten der „Döner-Morde“ 2006 in Kassel war offenbar ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes am Tatort anwesend – der Mann war sogar im Verdacht, der Täter zu sein.

Stahl: Auch hier kommt es auf den genauen Sachverhalt an. Mußte der Verfassungsschützer nach seinen Kenntnissen mit einem Anschlag ernsthaft rechnen, dann hat er sich zumindest nach Paragraph 138 Strafgesetzbuch – Nichtanzeige eines drohenden Verbrechens – strafbar gemacht.

Ein namentlich nicht genannter Informant äußerte gegenüber dem „Spiegel“, er könne sich „nur schwer vorstellen, daß jahrelanger Kontakt der Szene mit den Abgetauchten geheim bleiben konnte, also müssen entsprechende Verfassungsschutzstellen davon längst gewußt haben“.

Stahl: Ich gehe grundsätzlich davon aus, daß sich unsere Verfassungsschutzbehörden an Recht und Gesetz halten. Die Nachrichten, Gerüchte und Vermutungen überschlagen sich ja jetzt täglich. Die Medien wollen weitere Schuldige für die grauenhaften Verbrechen finden. Bis zum Beweis des Gegenteils gilt auch für die Verfassungsschützer die Unschuldsvermutung. Eine andere Frage ist, ob sie ihre Arbeit ordentlich gemacht haben. Das wird unter anderem die vom thüringischen Landtag eingesetzte Untersuchungskommission herausfinden müssen.

Kann die Bundesanwaltschaft wirklich darauf vertrauen, von den Verfassungsschutzämtern alle Unterlagen zu bekommen?

Stahl: Die Verfassungsschutzbehörden haben nach dem Bundesverfassungsschutzgesetz und den entsprechenden Gesetzen der Länder den Staatsanwaltschaften von sich aus ihnen bekanntgewordene Informationen zu übermitteln, einschließlich personenbezogener Daten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, daß die Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten erforderlich ist – also auch bei Verdacht der Bildung oder Existenz einer terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129a Strafgesetzbuch. Sie brauchen nicht zu übermitteln, wenn das schutzwürdige Interesse des Betroffenen – also des V-Mannes – das Allgemeininteresse überwiegt oder überwiegende Sicherheitsinteressen das erfordern. Beide Ausnahmen können bei geplanten oder vollzogenen Tötungsdelikten wie im Fall des NSU nicht greifen. Der Verfassungsschutz wird also seine gesamten Unterlagen der Bundesanwaltschaft gegenüber offenlegen müssen.

Der Verfassungsschutzspitzel Tino Brandt hat seine finanziellen Zuwendungen von seiten des Verfassungsschutzes in den Aufbau des „Thüringer Heimatschutzes“ gesteckt – der Fall machte 2001 Schlagzeilen.

Stahl: Es ist natürlich eine Gratwanderung: Ist einer nur Informant oder betätigt er sich selbst aktiv? Das Problem ist, daß der Verfassungsschutz eine präventive Funktion hat. Er ist also gehalten, auch V-Leute einzuschleusen oder zu gewinnen, um sich ein genaues Bild vom Innenleben einer Gruppierung zu machen. Wenn diese V-Leute dann anfangen, die extremistische Sache selbst zu betreiben, wird es heikel. Terroristisch darf sich aber natürlich eine vom Verfassungsschutz geführte Person auf keinen Fall betätigen!

Ist es denn glaubhaft, daß der NSU dreizehn Jahre ohne Unterstützung aus der Szene operieren konnte? Die RAF war stets auf Hilfe aus der Szene angewiesen.

Stahl: Das ist spekulativ: Wenn sich die Gruppe durch Banküberfälle finanziell über Wasser gehalten hat, und da sie ihre Taten ja nicht bekannt hat, kann sie natürlich autonom und unerkannt existieren, auch dreizehn Jahre lang – denkbar ist das. Ob es so war – wer weiß?

Einige Politiker spekulieren, daß weitere solche Gruppen unerkannt in Deutschland tätig sind. Ist das der Versuch, die Sache über Gebühr aufzubauschen oder eine reale Gefahr?

Stahl: Ich muß zugeben, daß auch ich von dem, was sich da offenbart hat, völlig überrascht bin. Wenn mir vor zehn Tagen einer gesagt hätte, daß es so etwas in Deutschland gibt, dann hätte ich das kopfschüttelnd für Spinnerei gehalten. Insofern meine ich, daß sich Ihre Frage derzeit nicht seriös beantworten läßt.

Nun wird gefordert, wieder mehr Geld in den „Kampf gegen Rechts“ zu stecken.

Stahl: Natürlich, den einschlägigen Gruppierungen, die ihre Existenzberechtigung aus diesem Kampf ableiten, werden diese Taten Oberwasser verschaffen, kein Zweifel. Aber zu bedenken bleibt, trotz allen Entsetzens über die aufgedeckten Morde, daß nach dem Verfassungsschutzbericht 2010 die Zahl der dem Rechtsextremismus zugeordneten Gewaltdelikte bei 285 Taten liegt, während auf das Konto der linksextremistischen Szene nach dem selben Bericht 944 Gewalttaten gehen – also das Mehrfache!

Ist ein Verbot der NPD die Lösung des Problems, wie Bayerns Innenminister Herrmann nahelegt?

Stahl: Die Antipathie gegenüber der NPD teile ich durchaus. Diesen Gedankengang kann ich aber nicht nachvollziehen. Wenn er keine relevanten konkreten Zusammenhänge zwischen den Morden des NSU und Tun und Reden der NPD nachweisen kann, wird er mit einem neuen Verbotsantrag, der sich isoliert auf diese Untaten stützt, scheitern. Der Umstand, daß die NPD ausländerfeindlich ist, wird allein für ein Verbot nicht ausreichen. Denn jeder Bürger hat das Recht, die Immigration von Ausländern nach Deutschland abzulehnen und Ausländer nicht zu mögen. Er darf jedoch nicht zu Straftaten gegen sie auffordern.

Welches ist nach Ihrer Ansicht die angemessene Strategie, um diese Art von Terrorismus künftig zu bekämpfen?

Stahl: Keine Hektik und Betriebsamkeit, keine neuen Gesetze, keine übereilten Verbote, sondern eine gründliche Fehleranalyse ist erforderlich: Wie konnte das geschehen und wie hätte man das verhindern können? Und danach erst handeln. Letztlich können wir doch bei dem derzeitigen Stand der Ermittlungen immer noch nur mutmaßen. Das abschließende Ergebnis der Ermittlungsbehörden wird hoffentlich Licht ins Dunkel bringen.

 

Alexander von Stahl war von 1990 bis 1993 Generalbundesanwalt und Nachfolger Kurt Rebmanns. Von Stahls Amtszeit war insbesondere von der Bekämpfung der Roten Armee Fraktion geprägt. Nach dem Schußwechsel auf dem Bahnhof von Bad Kleinen in Mecklenburg am 26. Juni 1993, bei dem der RAF-Terrorist Wolfgang Grams und der Polizeibeamte Michael Newrzella ums Leben kamen, wurde von Stahl von der damaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vorzeitig in den einstweiligen Ruhestand versetzt.

Der 1938 in Berlin geborene Jurist trat 1961 in die FDP ein und war von 1970 bis 1975 Fraktionsgeschäftsführer der Liberalen im Berliner Abgeordnetenhaus, später Mitglied des Landesvorstandes. Vor seiner Berufung zum obersten Ankläger der Bundesrepublik Deutschland war er vierzehn Jahre Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Justiz. 1995 gründete er die nationalliberal orientierte „Liberale Offensive in der FDP“, zog sich danach aber aus der Politik zurück. Heute lebt er als Rechtsanwalt in Berlin und im badischen Ettlingen.

Foto: Zwei Polizeibeamte führen am Montag Holger G., das mutmaßliche vierte Mitglied der Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“, dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe vor: „Wenn mir vor zehn Tagen einer gesagt hätte, daß es so etwas in Deutschland gibt, dann hätte ich das kopfschüttelnd für Spinnerei gehalten.“

 

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