© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/11 / 18. November 2011

Mehr Demokratie
Sperrklausel: Karlsruhe hat die Parteien an einer empfindlichen Stelle getroffen
Hans Herbert von Arnim

Das mit 5 zu 3 Stimmen ergangene Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom Mittwoch vergangener Woche schafft mehr Demokratie, indem es auch kleineren Parteien den Zugang zum Parlament eröffnet und so den Etablierten Beine macht. Bisher fielen Millionen Stimmen nicht nur unter den Tisch, nein, sie kamen auch noch den Glücklichen, die den Sprung ins Parlament geschafft hatten, zugute, also Parteien und Kandidaten, die die Wähler möglicherweise zutiefst ablehnen. Und das alles ohne triftigen Grund, wie der Senat mit vollem Recht festgestellt hat. Das urdemokratische Recht der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien war lange aus Gründen des Macht- und Postenerhalts der Etablierten schwer verletzt worden.

Nunmehr wurde das Kartell der politischen Klasse an einer empfindlichen Stelle geknackt. Die überstimmten Richter di Fabio und Mellinghoff bringen das in ihrem Sondervotum, wenn auch ungewollt, sehr deutlich zum Ausdruck, wenn sie versuchen, den Verdacht zurückzuweisen, „hier wollten etablierte Parteien, in einem Kartell organisiert, die Konkurrenz fernhalten“. Doch genau das ist in Wahrheit der Kern des Urteils, auch wenn die Mehrheit es vornehmer, nämlich wie folgt, formuliert:

Da der Wahlgesetzgeber „gewissermaßen in eigener Sache tätig“ werde, bestehe die Gefahr, „daß die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten“ lasse“. Auch in bezug auf die Fünfprozentklausel bei EU-Wahlen bestehe „die Gefahr, daß der deutsche Wahlgesetzgeber mit einer Mehrheit von Abgeordneten die Wahl eigener Parteien auf europäischer Ebene durch eine Sperrklausel und den hierdurch bewirkten Ausschluß kleinerer Parteien absichern könnte“. Deshalb unterliege die Ausgestaltung des Wahlrechts auch „hier einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle“.

Das Urteil ist auf massive Kritik von Starjournalisten überregionaler Zeitungen gestoßen – bis hin zur nur wenig kaschierten Empfehlung an den Bundestag, das Urteil zu unterlaufen. Das könnte beispielsweise bedeuten, daß dem Artikel 23 Grundgesetz ein Passus angefügt würde, der eine Fünfprozentklausel ausdrücklich erlaubt oder gar gebietet. Doch sollte man sich daran erinnern, daß ähnliches schon einmal gescheitert ist.

1995 wollte der Bundestag, ebenfalls in eigener Sache, das Grundgesetz ändern, um die Diäten an die Gehälter oberster Bundesrichter ankoppeln zu können, was das Bundesverfassungsgericht vorher ausdrücklich untersagt hatte. Ein offener Brief von 82 Staatsrechtslehrern an den Bundesrat, meines Wissens die erste derartige Aktion der Profession überhaupt, verhinderte den Machtmißbrauch.

Genauso ungeheuerlich erscheint es, wenn einer der Kommentatoren die Wähler und Funktionäre kleiner Parteien pauschal als „extremistisch und schläfrig“ herabgewürdigt, die sich „selbst genügen“. Abgesehen davon, daß da oft viel Idealismus vorherrscht und manche Parteien und Wählergemeinschaften auf kommunaler Ebene viele hundert, ja tausend (wohlgemerkt unbezahlte) Mandate innehaben, wird hier offenbar Ursache und Wirkung verwechselt.

Das Gericht rechtfertigt die Klausel auch nicht etwa deshalb für den Bundestag, weil dieser wichtiger wäre, sondern weil er eine völlig andere Struktur aufweist als das Brüsseler Parlament. Das Urteil richtet sich keineswegs gegen das Europäische Parlament. Vielmehr geht es darum, der politischen Klasse etwas ihrer Allmacht bei der Auswahl von Parlamentsabgeordneten zu entwinden und die Kartell-Parteien ein wenig zurückzudrängen. Dieser Ansatz geht allerdings, zugegeben, an den Nerv unseres Parteienstaates, weil er am Beispiel der EU-Sperrklausel die Legitimität auch manch anderer Entscheidungen, mit denen das Parlament sich in eigener Sache Privilegien verschafft, in Frage stellt. Das sehen offenbar auch die Kritiker; nur so ist ihre teils geradezu hysterische Reaktion zu erklären.

Bezogen aufs Wahlrecht ist zwar an der Sperrklausel bei Bundestagswahlen nicht zu rütteln. Über Wege, an ihr festzuhalten, gleichzeitig aber den Eingriff in die Wahlgleichheit zu mildern, kann aber durchaus nachgedacht werden. Eine Möglichkeit besteht darin, die Stimmen kleiner erfolgloser Parteien nicht wie bisher auch noch den Parteien und ihren Kandidaten zuzuschlagen, die ins Parlament gelangen, was die Beeinträchtigung der Gleichheit der Wahl unnötig verschärft, sondern das Parlament entsprechend zu verkleinern. Da die Größe des Bundestags im Grundgesetz nicht festgeschrieben ist, wäre das machbar – und hätte als milderes Mittel durchaus auch verfassungsrechtliche Qualität. Das Bundesverfassungsgericht hat auch jetzt wieder betont, daß Regelungen zur Verfolgung ihrer Zwecke nicht nur geeignet, sondern auch „erforderlich“ sein müssen.

Die ebenfalls von mir vorgetragene Kritik an den starren Wahllisten hat das Gericht sehr knapp abgetan. Fast gewinnt man den Eindruck, das Gericht fürchte die Auswirkungen auf Bundes- und Landtagswahlen und wollte die Frage der starren Listen nicht sozusagen im falschen Verfahren, das heißt bei der Europawahl, behandeln, obwohl sie unübersehbar auch die nationalen Wahlen betrifft. Trifft diese Interpretation zu, wäre die Frage der Verfassungsmäßigkeit der starren Listen noch nicht endgültig entschieden.

 

Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Verfassungsrechtler, war Beschwerdeführer im Verfahren gegen die Fünfprozenthürde.

Foto: Europaparlament in Straßburg: Starre Wahllisten bleiben bestehen

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