© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/11 / 18. November 2011

Gerichts-TV macht befangen
Nach Kachelmann: Es wird wieder einmal über die Frage gestritten, ob Kameras ins Gericht gehören
Ronald Berthold

Großbritannien erlebt derzeit eine medienpolitische Diskussion, die auch Deutschland erreichen wird. Auf der Insel entwickeln große Fernsehsender erheblichen Druck, auch in Gerichtssälen filmen zu dürfen. Die TV-Stationen haben gewichtige Fürsprecher in Politik und Justiz. Zuletzt hat sich gar Englands Generalstaatsanwalt dafür ausgesprochen, Justitias Türen für Kameras zu öffnen.

In der Tat erscheint es zunächst anachronistisch, in Zeiten von Handykameras und Bild-„Leserreportern“ Prozesse von bewegten Bildern auszunehmen. Es ist elementarer Bestandteil von Gerichtsverfahren in Rechtsstaaten, daß diese „öffentlich“ stattfinden. Damit wollten die Gesetzgeber Manipulation verhindern. Paragraph 169 des Gerichtsverfassungsgesetzes schränkt jedoch ein, daß „Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts“ unzulässig seien. Dies gilt in der Bundesrepublik seit 1964.

Öffentlichkeit bleibt also beschränkt auf die wenigen Menschen, die sich auf die Zuschauerbänke setzen dürfen, und auf die Gerichtsreporter, die im Anschluß vom Prozeß berichten. Letztlich heißt das, das große Publikum bleibt auf Erzählungen aus zweiter Hand angewiesen. Und dies schließt Fehlerquellen eher ein denn aus.

Auf der britischen Insel monieren die Befürworter nun, daß England und Deutschland mit ihrer Haltung eine kleine Minderheit unter den Demokratien darstellten. Ex-Minister Tom Watson hält die Regelung für unzeitgemäß: „Wenn es erlaubt ist, aus dem Gerichtssaal zu twittern, dann gibt es keinen Grund, warum es dort nicht auch Kameras geben sollte.“

In den USA gibt es diese Grenzen nicht. Das Einbruchsverfahren gegen Schauspielerin Winona Ryder verfolgten Millionen. Ebenso wie die Scheidungssache des Tennisstars Boris Becker gegen seine Frau Barbara. Selbst vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag darf gefilmt werden. Wir bekommen zwar eher langweilige Bilder von Radovan Karadzic und Ratko Mladic zu sehen. Aber wer will, kann die Prozesse verfolgen.

Keine Frage: Sendungen über die Klage Leo Kirchs gegen Ex-Deutsche-Bank-Chef Rolf Breuer wären auf reges Interesse gestoßen. Und bei einer Übertragung des Vergewaltigungsprozesses gegen Jörg Kachelmann hätten die Sender wohl Rekordquoten erzielt. Es wundert also nicht, daß in den Rundfunkanstalten massives Interesse an einer Aufweichung der strikten Regelung besteht.

Aber hätten Kameras beim Verfahren gegen den Wetterfrosch nur dem Voyeurismus oder auch der Wahrheitsfindung gedient? Was gehen eine Fernsehnation die Details eines gescheiterten Liebeslebens von Boris Becker tatsächlich an? Nicht viel. Aber wer vorher seine angeblich glückliche Ehe permanent im Fernsehen präsentiert, muß vielleicht hinterher auch damit leben, daß die Öffentlichkeit Interesse an der wahren Geschichte hat.

Dennoch: Die gewichtigeren Gründe sprechen für eine Beibehaltung des antiquiert erscheinenden Kameraverbotes. Gerade bei Prozessen gegen Prominente – und auf die würden sich die TV-Sender wohl hauptsächlich stürzen – besteht die Gefahr, daß das Showbusineß vor den Richtertisch getragen wird. Was aber von solchen Fensterreden zu halten ist, weiß jeder, der einmal eine Bundestagsdebatte direkt verfolgt hat. Die Sachlichkeit ist hier längst der Effekthascherei, Politik der Schauspielerei gewichen. Auf solch eine Art der Prozeßführung kann die Justiz verzichten. Richterin Barbara Salesch sollte Fiktion bleiben.

Noch bedeutender ist jedoch die Negativwirkung auf das gesamte Verfahren. Es machte einen Unterschied, ob Zeugen die Aussagen des Angeklagten vor Gericht vorher gesehen und sich per Video immer wieder angeschaut haben oder ob sie unbefangen in die Verhandlung gehen. Fernsehübertragungen könnten den Sinn des Paragraphen 243 Absatz 2 der Strafprozeßordnung konterkarieren. Demnach müssen die Zeugen nach der Eröffnung des Verfahrens den Saal verlassen. Sie dürfen nicht einmal der Anhörung des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen beiwohnen. Dasselbe gilt für das Verlesen der Anklageschrift durch den Staatsanwalt. Fernsehübertragungen würden es zudem späteren Zeugen ermöglichen, zu hören, was früher geladene Zeugen aussagten.

All dies widerspricht einer unvoreingenommenen Wahrheitsfindung. Der Vorwurf der Befangenheit ist ein juristisch scharfes Schwert. Damit kann ein ganzes Gerichtsverfahren zu Fall gebracht werden, auch wenn es vorher über Monate akribisch vorbereitet worden ist. Rundfunkübertragungen leisten dieser Befangenheit massiv Vorschub.

Auch wenn die Lobbyarbeit der TV-Anstalten auf eine gesunde Neugier des Publikums trifft, sollte der Rechtsstaat dem nicht nachgeben. Ein unabhängiges Verfahren erfordert Öffentlichkeit. Fernsehübertragungen aber gefährden diese Unabhängigkeit durch Zeugenbeeinflussung.

Foto: Gisela Friedrichsen nach dem Kachelmann-Prozeß: Die Sender hoffen, bald auch live berichten zu können

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