© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/11 / 18. November 2011

Aufarbeitung mit Hindernissen
Vor zwanzig Jahren wurde mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz eine rechtliche Grundlage für die Aufarbeitung der belasteten DDR-Hinterlassenschaft gelegt
Detlef Kühn

Der Umgang mit der Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) polarisiert noch immer. War es richtig, die von Mielkes Mannen angelegten Aktenberge aufzubewahren, oder wäre es dem inneren Frieden dienlicher gewesen, sie – wie mit den Akten der für Spionage zuständigen HVA geschehen – ebenfalls 1990 komplett zu vernichten und dem damaligen Vorschlag des Wittenberger Theologen Friedrich Schorlemmer nachzukommen, „Stasiakten ins Freudenfeuer“ zu befördern?

Da die Entscheidung „Aufbewahren“ lautete – was soll mit den Archivalien jetzt geschehen? Wie üblich dreißig Jahre lang unter Verschluß halten und sie dann der Forschung zur Verfügung stellen? Oder darf man sie zur Überprüfung der politischen Unbedenklichkeit von Beamten, Journalisten und Politikern nutzen? Und wie soll man – zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung – mit ehemaligen hauptamtlichen oder nebenberuflichen Mitarbeitern des MfS umgehen? Fragen über Fragen und nur selten Antworten, die uns zufriedenstellen.

Einige Fragen kann man inzwischen als geklärt betrachten. Die Stasi-Unterlagen sind prinzipiell ernstzunehmende historisch relevante Quellen, die man allerdings – wie andere Quellen auch – kritisch prüfen und in den historischen Kontext einordnen muß. Diese gliedern sich in archivierte Ablagen, das heißt zu DDR-Zeiten behördenintern archivierte Akten, und in Unterlagen der Diensteinheiten, die in der Regel noch 1989 als „aktive Vorgänge“  (Beobachtung von und Maßnahmen gegen bestimmte Personen) behandelt wurden. Stasiakten sind nicht grundsätzlich unglaubwürdig, nur weil das MfS in seiner operativen Arbeit häufig vor Lug und Trug („Zersetzung des Gegners“) nicht zurückschreckte. Sich selbst als Behörde wollte man jedenfalls nicht betrügen. Die heutigen Benutzer der Akten können im allgemeinen davon ausgehen, daß die dort geschilderten Sachverhalte dem Kenntnisstand der aktenführenden Mitarbeiter entsprachen und insofern „wahr“ waren.

Zum historischen Kontext gehört, daß das MfS in seiner politisch-ideologischen Abhängigkeit von der alles staatliche und gesellschaftliche Handeln beherrschenden SED gesehen werden muß. Das MfS war nie „Staat im Staate,“ sondern hat sich selbst nur als „Schild und Schwert“ der Partei der Arbeiterklasse betrachtet. Im Zweifel gingen die Entscheidungen der Partei der möglicherweise abweichenden Meinung der zuständigen MfS-Mitarbeiter vor. Deshalb war es konsequent, daß von einer bestimmten Ebene an führende Politiker der SED nicht mehr vom MfS operativ bearbeitet werden durften. Ausnahmen, die es gab, bestätigen dabei nur die Regel! Jedenfalls wäre es ein historischer Fehler, wollte man die Führung der SED von der Verantwortung für die  rechtsstaatswidrigen Maßnahmen des MfS freisprechen.

Bei Beachtung dieser Erkenntnisse lassen sich einige noch immer umstrittene Personalfragen leichter klären. Der Wehrpflichtige, der zum MfS-Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ eingezogen wurde, war sicherlich besonders überprüft und meistens wohl auch von den Segnungen des real existierenden Sozialismus überzeugt. Dennoch sollte man diesem jungen Menschen nicht von vornherein die Fähigkeit zur Weiterentwicklung und zu neuen, kritischen Erkenntnissen – vielleicht gerade aufgrund der Erfahrungen in einer MfS-Einheit – absprechen. Das gilt auch für Personenschützer, die wohl in der DDR kaum eine andere Arbeit geleistet haben als ihre Kollegen im Westen. Daß sie gelegentlich auch das Privatleben der zu schützenden Personen nebenbei ein wenig überwachten (in wessen Auftrag auch immer), mag sein, soll aber auch im Westen schon vorgekommen sein.

Daß der erste „Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ (BStU), Joachim Gauck, Anfang der neunziger Jahre beim Aufbau der neuen Behörde glaubte, auf einige Kenner des kaum überschaubaren Aktenwesens des MfS nicht verzichten zu können, ist immerhin nachvollziehbar. Daß diese Überlegung nicht in Vertrauensseligkeit umschlagen darf, sollte selbstverständlich sein.

Der letzte, schon demokratisch bestimmte DDR-Innenminister Peter- Michael Diestel, 1990 für die Hinterlassenschaften der Stasi zuständig, war da weniger kritisch als die Bundesbeauftragten nach ihm. Es ist auch unbestreitbar, daß Pförtner sozusagen zur „Visitenkarte“ einer Behörde gehören und nicht wegen ihrer Vergangenheit zur Belastung werden dürfen. Daß dieses Problem im Hause von Joachim Gauck, Marianne Birthler und nunmehr Roland Jahn in zwanzig Jahren nicht gelöst werden konnte, stellt der Verwaltung auf Bundesebene kein gutes Zeugnis aus. Warten wir ab, ob die jüngste Gesetzesänderung auf Druck des neuen Behördenchefs eine Lösung bringt.

Im internationalen Vergleich gilt das deutsche Stasi-Unterlagen-Gesetz meist als vorbildlich. Mit ihm wurde bewiesen, daß die Öffnung von Geheimdienstunterlagen ehemaliger Diktaturen nicht, wie befürchtet, zu Chaos, Mord und Totschlag und Racheakten einstmals Verfolgter führen muß. Selbst Gerichte wurden von den Opfern kaum bemüht, um Zuträger, Spitzel oder deren Auftraggeber nachträglich zur Verantwortung zu ziehen. Als um so klagefreudiger erweisen sich dagegen enttarnte Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS, die sich inzwischen im Westen arrangiert haben und um ihren guten Ruf fürchten, wenn ihre früheren Schandtaten publik werden. Ihnen stehen alle Möglichkeiten eines Rechtsstaates offen.

Zudem haben Änderungen dafür gesorgt, daß die ursprüngliche Fassung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes entschärft wurde. Wer jetzt nicht gleich als Täter identifiziert wird, darf sicher sein, daß sein Name nicht ohne seine Zustimmung veröffentlicht wird. Im Zweifel werden in den an Antragsteller herauszugebenden Stasiakten Namen und Lebensumstände anderer Personen geschwärzt – sogar dann, wenn die Betreffenden in einem positiven Zusammenhang erwähnt werden. Entscheidend zu dieser Änderung des Gesetzes hat eine Klage Alt-Bundeskanzler Helmut Kohls beigetragen, der jetzt sicher sein kann, daß er die Kontrolle über die ihn betreffende Historiographie behält.

Insgesamt hat die Öffnung der Stasiakten zweierlei bewirkt: Zigtausende normale Bürger wissen nun, mit welchen Methoden und Ergebnissen das MfS sie unter Kontrolle hatte; zugleich ist damit die Banalität seines Wirkens offenbart und seine Dämonisierung verhindert worden. – Die historische Forschung hat den Stasi-Unterlagen wichtige Erkenntnisse über kommunistische Machtausübung zu verdanken. Damit kann sie den Versuchen des Insider-Komitees des MfS und seiner publizistischen Helfer entgegentreten, das Wirken der DDR-Tschekisten nachträglich zu einem Beitrag zur Erhaltung des Weltfriedens zu verfälschen.

Dennoch ist gerade auf diesem Gebiet noch viel zu tun. Die Aufklärung der gegen die Bundesrepublik gerichteten Westarbeit des MfS läßt zu wünschen übrig. Für diesen Bereich liegen die wichtigsten Unterlagen nicht in der Jahn-Behörde, sondern in den Ermittlungsakten der Generalbundesanwaltschaft. Sie und die Akten von Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst sind kaum zugänglich. Die 2003 von den Amerikanern übergebenen „Rosenholzdateien“ deuten die Dimension des noch Unbekannten an Fraglich ist nur, wessen Interesse an der Geheimhaltung dieses Materials größer ist, das der Täter oder der Gegner des MfS.

Foto: Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin: Es wäre ein historischer Fehler, wollte man die Führung der SED von der Verantwortung für die  rechtsstaatswidrigen Maßnahmen des MfS freisprechen

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