© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Immer öfter für den Angeklagten
Berlin II: Milde Urteile der Gerichte sorgen für Kritik
Ronald Berthold

Als die 21 Jahre alte Verkäuferin die Bäckerei betritt, stürmt Abdulrahman I. auf sie zu. Der vier Jahre ältere Mann ist ihr Exfreund und Vater der gemeinsamen Tochter. Er kann nicht verwinden, daß sich Theresa J. von ihm getrennt hat. Oft schon hatte er sie körperlich angegriffen, soll sie sogar mit dem Tode bedroht haben. Die Staatsanwaltschaft stellte jedoch sämtliche Verfahren ein.

Diesmal, am 30. Juli 2011 in Berlin-Schöneberg, hat der Libanese ein Messer dabei. Er stürzt sich auf seine frühere Lebensgefährtin und sticht immer wieder auf sie ein – in den Kopf, den Oberkörper und das Bein. Selbst als eine Bäckerei-Kollegin ihn von Theresa kurzzeitig losreißen kann, hört er nicht auf. Er schüttelt die Helferin ab und sticht erneut auf seine Exfreundin ein. Die Frau muß operiert werden. In diesen Tagen steht Abdulrahman I. wegen dieser Tat vor Gericht. Was sich anhört wie der Versuch eines Ehrenmordes, ist für die Staatsanwaltschaft lediglich „gefährliche Körperverletzung“. Abdulrahman ist ein freier Mann, er muß nicht im Gefängnis sitzen. Und Theresa J. lebt in ständiger Angst, er könnte sich erneut „beleidigt“ fühlen. Denn so hat der Araber, der seine Exfreundin unmittelbar vor der Tat als „Schlampe“ und „Hure“ beschimpfte, die Messer-Attacke auf die unbewaffnete Frau begründet: Er habe sich von Theresa „beleidigt“ gefühlt.

Ob das Gericht ihn tatsächlich verurteilt, eine Haftstrafe anzutreten, ist offen. Aber allein die Tatsache, daß der Libanese nicht in Untersuchungshaft sitzt und daß der Staat ihn eben nicht wegen eines Tötungsdeliktes anklagt, scheint dagegen zu sprechen. Dieser Sanftmut erregt derweil in der Hauptstadt die Gemüter. Denn Abdulrahman I. ist nicht der einzige Täter, der vom milden Umgang der Berliner Justiz mit Verbrechern zu profitieren scheint. Das Boulevardblatt B.Z. titelte kürzlich: „Urteile wirklich im Namen des Volkes?“ Denn auch die Urteile zu anderen Taten lassen aufhorchen. Ein 36jähriger aus der Hausbesetzer-Szene zum Beispiel wurde vom Vorwurf der Körperverletzung freigesprochen. Bei einer gewalttätigen Demonstration gegen die Räumung der Liebigstraße 14 in Berlin-Friedrichshain war ein Mann mit auffälligen und verfilzten Rastalocken bis auf vier Meter auf Polizisten zugerannt und hatte einen faustgroßen Stein auf die Beamten geworfen. Der Brocken traf einen Polizisten im Rücken.

Vor Gericht Ende März 2011 war der Beamte überzeugt, den Angeklagten als Steinewerfer wiedererkannt zu haben: „Ich hatte sein Gesicht genau gesehen“, versicherte er. Andere Polizisten erkannten den Mann ebenfalls wieder. Eigentlich eine eindeutige Sache: Alle Zeugen identifizieren einen Täter bei der Gegenüberstellung. Nur für die Richterin war das lange noch kein Grund, den Linken zu verurteilen. Denn zwei Zeugen erinnerten sich, daß der Steinewerfer eine helle Jacke angehabt hätte. In Wirklichkeit war diese jedoch dunkel.

So plagten die Richterin trotz der Identifizierung des Gesichtes Zweifel, ob der Mann nicht Opfer einer Verwechslung geworden sein könnte: „Und wenn ich Zweifel habe, kann ich auch nicht verurteilen.“ Manch ein Prozeßbeobachter hatte nach dem Richterspruch den Verdacht, von Anfang sei ziemlich genau nach einem Zweifel gesucht worden und die Randnotiz mit der Farbe des Anoraks wäre relativ willkommen erschienen. Denn daß das Urteil auch ein Schuldspruch hätte sein können, daran bestand unter Juristen kein Zweifel.

Auch mit der Verurteilung von Autobrandstiftern tut sich die Berliner Justiz schwer, wenn denn überhaupt einmal welche festgenommen werden. Trotz des Nachweises von Grillanzünder-Substanz an Kleidung und Händen wurden einige Angeklagte freigesprochen. Dubiose Begründung: Die Substanz könnte auch vom abendlichen Grillen stammen. Es reiche auch nicht aus, daß sich diese Personen zum Tatzeitpunkt in der Nähe der brennenden Wagen aufhielten und flüchteten.

Beispiel Thomas K.: Der Mann ist ein polizeibekannter Autobrandstifter. Doch nachdem er einmal auf frischer Tat erwischt wurde und eine Bewährungsstrafe erhielt, wollte ihn die Justiz kein zweites Mal verknacken. Als er wieder beim Zündeln gefaßt wurde, ließen ihn die Behörden laufen.

In der Berliner Polizei herrscht ob des allzugroßen Verständnisses der Gerichte für festgenommene Straftäter Fassungslosigkeit und Frustration. Denn neuerdings gilt die Milde der Justiz offenbar auch für Kinderschänder. Der Ex-Bahnhofsleiter der Kindereisenbahn im Köpenicker Vergnügungspark Wuhlheide kam ebenfalls mit Bewährung davon, obwohl er gestand, sechs Kinder und einen Jugendlichen mißbraucht zu haben. 47mal hatte er sich an seinen Opfern vergangen. Doch das Gericht verließ der 26jährige als freier Mann. Zwei Jahre Gefängnis, ausgesetzt zur Bewährung, lautete das Urteil. Bewährt hat sich in der Vergangenheit nicht jeder Kinderschänder – auch nicht in Berlin.