© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Konservative Lebenslügen
Matter Abglanz
von Thomas Fasbender

Der deutsche Konservatismus steckt in seiner tiefsten Krise. Vierzig Jahre nach 1968 sind die Konservativen an den Katzentisch verbannt; unter den Etablierten hat keiner, der auf sich hält, mit ihnen noch viel am Hut. Ihre angestammte Partei, die CDU, verweigert sich. Heiner Geißler hat es glasklar formuliert: „Es ist ein großer Irrtum (…) anzunehmen, die CDU sei eine konservative Partei.“

Selbst die Bischöfe setzen alles daran, im Lichte des Zeitgeists eine gute Figur zu machen. Und haben sie nicht recht: Was übrig ist vom rechten Flügel wettert gegen Zuwanderung und Überfremdung, gegen Islam, Burkas und Minarette, gegen Brüsseler Bevormundung und den Euro. Alles Böse kommt von außen, alles Gute ist Vergangenheit. Wer noch konservativ ist, so scheint es, empfindet die Zeit vor allem als Bedrohung, formuliert Ängste und Befürchtungen. Staat machen kann man damit nicht.

Dabei täte es bitter not, daß dem Konservatismus Flügel wachsen und er sich aufschwingt aus den Niederungen der Angst und der Nostalgie. Konservative Kritik, die im wesentlichen um muslimische Einwanderer kreist, greift zu kurz. Sollen die Liberalen sich an den strengen, eigentümlichen Regeln einer fremden Religionsgemeinschaft reiben, das ist ihr Problem. Warum mit denen ins Horn stoßen, denen auch der Papst eine Zumutung ist?

Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) verweist an einer Stelle seines Buches auf die Schüler im Libanon, die vor dem Unterricht ihre Fingernägel vorzeigen. Die jungen Araber in den islamisch dominierten Vorstädten Deutschlands treiben die Zügellosigkeit, die wir Einheimischen zelebrieren, nur auf die Spitze. Was uns noch von ihnen unterscheidet, ist das Restkapital bürgerlicher Selbstdisziplin, von dem wir zehren, so lange, bis auch unsere Jugend vor den Flachbildschirmen verkommt. Was bieten wir den entwurzelten Fremden – was bieten wir unserem eigenen Nachwuchs?

Christentum? Abgehakt. Fleiß, Anstand, Ordnung, Pflichtbewußtsein? Mit Auschwitz untergegangen. Ein Vaterland, eine kollektive Identität? Seit vier Jahrzehnten reden wir uns ein, unser Vaterland sei Europa, der ganze blaue Planet, das Universum. Vielleicht sind es nicht die Fremden, die entwurzelt sind, vielleicht sind wir es selbst. Vor allem jene, die glauben, mit der heiligen Aufklärung im Kopf endgültig die Nadelspitze der Evolution zu besetzen. Aber spielen wir den Gedanken zu Ende. Was geschähe, wenn die in Deutschland lebenden Muslime und ihre Gebetshäuser sich über Nacht in Luft auflösten? Was wäre, wenn der Euro fort und die EU zu dem reduziert wäre, was sie einmal war: Montan- und Zollunion? Weder kehrte die gute alte Zeit der deutschen Bundesrepublik zurück noch irgendeine andere verlorene Unschuld. Die D-Mark wäre nicht mehr als nostalgische Tünche, noch dazu volkswirtschaftlich widersinnig. Das demographische Problem – Deutschland am untersten Ende der weltweiten Geburtenskala – würde sich nur verschärfen. Und unser Abendland wäre keinen Deut christlicher, wenn es in der Nachbarschaft keine Moscheen mehr gibt.

Die Kernübel, die unsere blühende Gesellschaft konkret mit dem Garaus bedrohen, würden ohnehin kaum berührt: die öffentlichen Schuldenberge, die überbordenden Sozialkosten, die extreme Kinderlosigkeit. 2010 überstiegen unsere Staatsschulden die 2.000-Milliarden-Grenze – 80 Prozent der jährlichen Wertschöpfung der Volkswirtschaft. Zinslast und steuerfinanzierte Sozialaufwendungen fressen über die Hälfte des Bundeshaushalts und dieser Anteil steigt, wenn erst die Baby-Boomer im Ruhestand sind. Die jährliche Neuverschuldung, über einen längeren Zeitraum betrachtet, deckt gerade einmal den Schuldendienst.

Unterdessen tritt der Pleitestaat den Rückzug an. Mit jedem Jahr verringert sich die europäische Wettbewerbsfähigkeit. Städte und Gemeinden können die gewohnte Infrastruktur nicht mehr finanzieren. Die Unzufriedenheit mit der politischen Klasse wächst quer durch den Kontinent. Zweistellige Arbeitslosenraten gibt es nicht nur unter ausländischen Jugendlichen, und auch die Aufstände in den Großstädten machen sich nur oberflächlich an ethnischen Identitäten fest.

Wenn Autos und Straßenfronten brennen, denkt auch der Hedonist an sein Cabrio und hält den Atem an. Doch bald widmen sich alle wieder ihren Lieblingsspielen: der gegenseitigen Bestätigung im politisch korrekten Diskurs, in der bunten, heilen Welt der Galerien am Prenzlauer Berg, der Lektüre von Schöner Wohnen. Im modernen, säkularen Wohlfahrtsstaat, der das Gleichgewicht von Ich und Wir nicht mehr kennt, schrumpfen Staat und Gesellschaft zu bloßen Objekten der Erwartung. Die soziale Herkunft spielt dabei die geringste Rolle. Die einen bürden ihre Last der Gemeinschaft auf, die anderen weigern sich, ihrer Kraft entsprechend mitzutragen.

Die Gierigen oben und die Gierigen unten sind aus demselben faulen Holz – sei es der Hartz-IV-Empfänger, der verlangt, daß die Kasse sein Viagra zahlt, sei es der entlassene Bankvorstand, der seine Bonusmillionen einklagt. Eine parasitäre Lebenseinstellung, deren einziger Kompaß der eigene Lustgewinn ist, durchseucht alle Schichten der Gesellschaft. Schließlich wird schon den Kindern eingebleut, nur ja auf ihren Rechten zu bestehen. Die Werbung drückt es anders aus: Ich will alles, und das sofort.

So wie im späten 19. Jahrhundert der Begriff der Nation völkisch, rassistisch und kollektivistisch pervertiert wurde, so degenerierte im späten 20. Jahrhundert der Begriff des Individuums, indem der Einzelne seine Lust absolut setzt und schließlich als Hedonist die Bedingungen der eigenen Freiheit zerstört. Hedonistische Lebensentwürfe konsumieren das immer knapper werdende gesellschaftliche Kapital, ohne sich an den Investitionen zu beteiligen. Der finanziell abgesicherte, kinderlose Single mit seinem hohen Raum-, Energie- und Konsumbedarf oder die Drohnenexistenz am Tropf der Grundsicherung – Lebensentwürfe, die nur noch auf begrenzte Zeit finanzierbar sind. Egal, ob auf dem Wege gesellschaftlicher Transfers oder aus der eigenen Tasche.

Die fortschreitende Globalisierung und die wachsende Rolle übernationaler Institutionen beschneiden die Gestaltungsmacht der Politiker faktisch, von außen. Die EU-Bürokratie saugt Entscheidungsgewalt an wie ein Magnet; Konzerne und Finanzwelt kennen, ihrer eigenen Logik folgend, schon lange keine nationalen Grenzen mehr. Mittlerweile ist der Abschied vom Alimentierungsstaat unabwendbar; der permissiven Gesellschaft zerrinnen die Ressourcen unter der Hand. Weder die schönsten Menschen- und Bürgerrechte noch die Alternativen auf Basis sozialer oder biologischer Kollektive taugen. Die politisch bedeutsamsten Errungenschaften der Aufklärung, Individuum und Nation, haben sich überholt.

Das neue Spannungsfeld, das hinter dem Horizont der Zeit in Bereitschaft liegt, muß nicht erst erfunden werden. Der eine Pol ist die Globalisierung mit allem, was dazugehört – da ist nichts rückgängig zu machen. Die Hoheit über die technischen Produktionsmittel, noch vor Jahrzehnten fest in Händen der westlichen Welt, ist verloren. Der Planet ist ein Dorf, kein Brathaus für Extrawürste. Der Gegenpol liegt im Kleinteiligen, Regionalen, im Fokus auf die lokale Lebenswelt, auf den Ersatz von „Gesellschaft“ durch „Gemeinschaften“. Das ist die Konsequenz aus dem Scheitern des überschuldeten Sozial- und Transferstaates. Das ist aber auch die Renaissance einer Demokratie, die sich wieder anfassen läßt.

Unausweichlich ist die Reideologisierung unseres Denkens und Redens, auch der Sturm auf die Bastille der politischen Korrektheit. Die pragmatischen und utilitaristischen Konzepte, die unsere Vorstellungen von Staat, Politik und Gesellschaft bestimmen, sind alle für schönes Wetter geschrieben. Die Gemeinschaft und der Einzelne bedürfen jedoch bindender, verbindlicher Werte, die auch dann tragen, wenn das Eis dünn ist und bricht.

Alle Gesellschaftssysteme, denen sich der Westen im letzten Jahrhundert angedient hat – realer Sozialismus, faschistischer Ständestaat, moderner Sozialstaat –, haben sich letztendlich als Pleitemodelle entpuppt. Wir wären also gut beraten, uns bei der Missionsarbeit zurückzuhalten und vor der eigenen Haustür zu kehren; mit unserer Überzeugungskraft liegt es ohnehin im argen.

In dieser Lage können die Konservativen ihren Erfahrungsvorsprung ausspielen. Vor allem sind jene gefordert, die sich auf den schlichten Satz besinnen: Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Die aber nicht lauwarme „Mitte“ sind wie unsere Volksvertreter, sondern bereit sind, den Aufschrei auszuhalten, der unausbleiblich ist, wenn den Alimentierten aller Schichten der Nuckel aus dem Mund gezogen wird. Konservative erwarten mehr von ihrem Gemeinwesen als einen liberalen Nachtwächter, mehr als einen Garanten materiellen Wohlstands und gleicher Rechte. Es geht immer auch um die Vorstellung vom „richtigen Leben“. Entsprechend ist der Staat für den Konservativen kein Verwaltungsapparat im Dienst des Nützlichen. Seine Regeln und Gesetze sind Ausdruck von Werten, und Politik ist das Streiten um Werte, ihren Rang und ihre Geltung.

Werte sind kein Prärogativ des Individuums, auch wenn sie die Anerkennung durch den Einzelnen voraussetzen, um mehr zu sein als leerer Begriff. Sie existieren nicht absolut, sondern verlangen nach Annahme, nach affirmativer Aktion. Das verleiht ihnen Leben und macht sie sterblich. So sterblich wie Kulturen, denen ihre je eigenen Werte erst das Gepräge geben. Und wie alles Lebendige wollen sie geschützt und verteidigt sein; Werte sind etwas, für das zu kämpfen und mitunter auch zu sterben kein Fehler ist.

Der abendländische Konservatismus ist kein Festhalten, keine Nostalgie, keine Suche nach dem Glück in der Vergangenheit. Aber er ist auch nicht dem Fortschrittsgedanken verschrieben, und mit historischen Gesetzen hat er nichts am Hut. Mit mathematischen Formeln kommt ihm niemand bei. Konservatismus ist, und dessen sollte sich kein Konservativer je schämen, eine lebendige, sehr skeptische und sehr pragmatische, in der Lebenspraxis verwurzelte Ideologie. Eine Ideologie, deren Fülle bis tief in den Raum jenseits von Ratio und Algebra reicht.

Konservativ sein heißt immer auch skeptisch sein hinsichtlich der Möglichkeiten des Menschen, das Gute zu schaffen. Der Versuch, mit schönen Worten und viel Geld eine gute, ach so aufgeklärte Welt herbeizuzaubern, ist gescheitert. Die damit einhergehende Ernüchterung beschert dem Konservatismus im 21. Jahrhundert eine große Chance, aber nur, wenn es gelingt, neue, auf die sich verändernde Zukunft hin entworfene Positionen zu entwickeln.

Der Konservatismus muß aus der Schmollecke heraus, er muß in die Offensive gehen. Anstatt sich hinter Ressentiments zu verschanzen, müssen Konservative um die Deutungshoheit der Begriffe kämpfen. Wie die Fahnen und Feldzeichen der alten Armeen bestimmen sie die Standorte in einer Zeit des Meinungs- und Informationsüberflusses: Freiheit, Europa und Vaterland. Das richtige Leben. Dort entscheidet sich Sieg und Niederlage.

 

Dr. Thomas Fasbender, Jahrgang 1957, ist Philosoph und Kaufmann in Moskau, wo er Dienstleistungen für ausländische Unternehmen organisiert. Journalistisch ist er für die Internetzeitung Rußland-Aktuell und seit 2011 auch für die JF tätig.

Foto: Konservatives Tafelsilber: Was ist, wenn sich die Patina nicht mehr wegpolieren läßt?