© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

„Wir werden nichts vergessen“
Vor fünfzig Jahren nahm in Salzgitter die Zentrale Erfassungsstelle über das SED-Unrecht ihre Arbeit auf
Christian Vollradt

Als erster hatte Berlins Regierender Bürgermeister die Initiative ergriffen. Am 5. September 1961, wenige Wochen nach dem Bau der Mauer, richtete Willy Brandt (SPD) ein Fernschreiben an seine Kollegen Ministerpräsidenten der Bundesländer mit der Betreffzeile „Verfolgung von SED-Verbrechen“. Es sei, so heißt es am Beginn des Schreibens, der Vorschlag gemacht worden, „schon jetzt alles Erforderliche zu tun, um zu gegebener Zeit diejenigen Organe und Beauftragten des Pankower Regimes, die sich im Zuge der jüngsten Gewaltmaßnahmen zu Straftaten haben hinreißen lassen oder dies künftig tun, zur Verantwortung zu ziehen“. Diesen Vorschlag wolle er aufgreifen, um „allen Anhängern und Dienern des Pankower Regimes eindeutig vor Augen zu führen, daß ihre Taten registriert und sie einer gerechten Strafe zugeführt werden“.

Brandt sprach sich zunächst dafür aus, mit den erforderlichen Ermittlungen die Ludwigsburger „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“, die am 1. Dezember 1958 ihre Arbeit aufgenommen hatte, zu betrauen. Seine frappierende Begründung würde heutigen Sozialdemokraten sicherlich Bauchschmerzen bereiten: „Wegen der nahezu völligen Identität der jetzt vom SED-Regime in der Zone und in Ostberlin angewandten Methoden mit denen des Nationalsozialismus.“ Die Anregung selbst, eine – wie Brandt schrieb – „organisatorische Grundlage für eine bundeseinheitliche und umfassende Strafverfolgung der Untaten der Gewalthaber der SED“ zu schaffen, um wenigstens die für eine spätere Verfolgung „erforderlichen Beweissicherungen“ zu ermöglichen, kam vom Hamburger CDU-Vorsitzenden Erik Blumenfeld.

Schnell einigten sich die Justizminister und -senatoren auf ihrer Konferenz im Oktober 1961, eine Zentrale Erfassungsstelle zu errichten; wegen des zu erwartenden Arbeitsanfalls wurde auf die Angliederung in Ludwigsburg verzichtet. Daß Niedersachsen, das Land mit der längsten Grenze zur DDR, beauftragt wurde, war kein Zufall, wohl aber der Standort Salzgitter: Dort war gerade ein Gebäude frei.

So nahm am 24. November 1961 die neue „Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen“ (ZESt) in Salzgitter-Bad ihre Arbeit auf, beigeordnet der Staatsanwaltschaft am Oberlandesgericht Braunschweig. Deren Vorgesetzter, Hannovers Justizminister Arvid von Nottbeck (FDP), hatte den Auftrag klar vorgeben: „Wir werden nichts vergessen, es wird auch nichts verjähren.“ Die Gewaltakte des SED-Regimes sollten laut Erlaß festgehalten und beizeiten gesühnt werden. Dazu zählten „Tötungshandlungen, die im Zusammenhang mit der Beschränkung der Freizügigkeit stehen“, politische Unrechts- oder „Terrorurteile“, sowie Mißhandlungen im Strafvollzug, „wenn sie als Ausdruck des politischen Gewaltsystems der DDR erkennbar sind“; außerdem beim Verdacht des Völkermordes, der Verschleppung oder der politischen Denunzierung. Später wurde noch erwogen, dann jedoch verworfen, den Tatbestand „Zwangsadoption“ aufzunehmen. Allerdings fehlte der Erfassungsstelle die staatsanwaltliche Befugnis zur Strafverfolgung, sie konnte lediglich Vorermittlungsverfahren einleiten, da der „Tatort DDR“ keinen westdeutschen Gerichtsstand hatte.

Begonnen hatte „Salzgitter“ als Zwei-Mann-Behörde, ein Jahr später betrug die Personalstärke schon sieben Mitarbeiter. Herzstück war von Beginn an die Namenskartei, zunächst eine Schlitzlochkartei, ab 1977 eine elektrische Karteitrommel. Als Quellen wurden die Lageberichte des Bundesgrenzschutzes herangezogen, außerdem wertete man Presseberichte aus. Am wichtigsten waren jedoch die Zeugenaussagen geflüchteter DDR-Bürger, übergelaufener NVA-Soldaten und eines großen Teils der – ab 1963 – insgesamt etwa 33.000 freigekauften Ex-Häftlinge aus dem DDR-Strafvollzug.

Ausgewertet wurden außerdem die sogenannten Gießener Listen, die Fragebögen im zentralen Aufnahmelager für Flüchtlinge und Übersiedler im hessischen Gießen. Gerade dadurch wuchs „Salzgitter“ in die Rolle des Stachels im Fleisch der auf diese Weise bloßgestellten SED-Diktatur. Eine Kontaktaufnahme mit der Erfassungsstelle stand in der DDR unter Strafe; den Mitarbeitern der ZESt drohte auf DDR-Gebiet die Verhaftung, so daß sie sogar die Transitstrecken meiden mußten. Die östlichen Machthaber witterten in der niedersächsischen Industriestadt ein Spionagezentrum, eine Einrichtung des Revanchismus, und forderten dessen umgehende Schließung.

Schließlich setzte die sogenannte Entspannungspolitik und der „Wandel durch Annäherung“ den einst so unumstrittenen überparteilichen Konsens in der Bundesrepublik hinsichtlich der ZESt außer Kraft. Bereits 1970 dachte der niedersächsische Justizminister Horst Schäfer (SPD) laut über eine Schließung der ZESt in seinem Bundesland nach. 1984 faßte die SPD-Bundestagsfraktion einstimmig den Beschluß, die Erfassungsstelle sei „wirkungslos und überflüssig“. Im selben Jahr verzeichnete „Salzgitter“ 2.175 Hinweise auf DDR-Unrechtstaten, ein Jahr später sogar 2.660 Fälle. Weil man aber längst nicht mehr an die Wiedervereinigung glaubte, hielt man solche Erfassung für überflüssig; wozu aufschreiben, was nicht geahndet werden kann? Da wäre es doch angebracht, so meinten die „Appeaser“, im Gegenzug zur Auflösung der Karteikarten-Behörde von der SED „Erleichterungen“ für die „Bürger der DDR“ zu erhoffen. Gegen diese Linie der SPD stemmte sich als einer der wenigen der damalige Braunschweiger Oberbürgermeister (und spätere niedersächsische Ministerpräsident) Gerhard Glogowski. Anders seine Parteigenossen Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Björn Engholm oder Walter Momper.

„Salzgitter“ kostete im Jahr im Schnitt nur etwa 250.000 D-Mark. Dennoch stellten 1988 das Saarland, Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen ihre anteiligen Zahlungen ein. Im Januar 1989 folgten Schleswig-Holstein, im Mai Berlin diesem Beispiel. Das Saarland hätte 1989 ganze 3.506 D-Mark zahlen müssen, Berlin 6.373 D-Mark. Momper, Regierender Bürgermeister und Nachfolger des einstigen Initiators Willy Brandt, meinte jedoch, man habe dies Geld nicht übrig für eine Stelle, die „so überflüssig wie ein Kropf“ sei. Und der Spiegel ätzte gegen „Deutschlands erfolgloseste Behörde“.

Deren Ermittlungsbilanz spricht eine andere Sprache: 42.000 Gewaltakte, über 190 vollendete Tötungen, 700 bis 800 versuchte Tötungen (mit zum Teil schwerverletzten Opfern, etwa durch Bodenminen an der innerdeutschen Grenze), 2.700 Mißhandlungen im Strafvollzug sowie über 34.000 Verurteilungen aus politischen Gründen. In einem Kilometer Akten, die sich im Vergleich mit den achtzig Kilometern der Stasi-Unterlagen-Behörde geradezu winzig ausnehmen, sind die Namen von 10.000 Beschuldigten und 70.000 Opfern erfaßt.

Nach der Revolution 1989 wurden rund 62.000 Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen Rechtsbeugung, eingeleitet, deren wichtigste Quelle die Akten aus Salzgitter waren. Nicht zu unterschätzen ist auch die psychologische Wirkung, die die Erfassungsstelle hatte: Ehemalige politische Häftlinge berichteten, daß Bedienstete im DDR-Strafvollzug sich mit Mißhandlungen zurückhielten, wenn das „Zauberwort Salzgitter“ fiel und ein Freikauf des Gefangenen nicht unwahrscheinlich war. 1992 wurde „Salzgitter“ aufgelöst – überhastet, wie Kritiker meinen. Die Akten gingen zunächst an die Staatsanwaltschaft Braunschweig, dann (2007) ins Bundesarchiv nach Koblenz, nachdem im Jahr 2005 das letzte Verfahren mit Beweismitteln aus Salzgitter abgeschlossen war.

Der letzte Leiter der Erfassungsstelle, Oberstaatsanwalt Heiner Sauer, der 1991 die Arbeit der Behörde in seinem Buch „Salzgitter-Report“ dokumentierte, konnte sich mit der Forderung nach einer zentralisierten Verfolgung der SED-Verbrechen nicht durchsetzen. Stattdessen lieferten die Mitarbeiter der ZESt Akten-Kopien an die neu errichteten Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften in Mitteldeutschland. Und so kam es durchaus vor, erinnert sich der ehemalige stellvertretende Leiter Hans-Jürgen Grasemann, daß die Abgesandten aus Salzgitter mit ehemaligen DDR-Juristen zusammensaßen, die sie vorher zwar nie gesehen hatten – und deren Namen ihnen doch vertraut waren: aus ihrer Kartei über verfahrensbeteiligte Staatsanwälte und Richter der realsozialistischen Unrechtsjustiz.

Grasemanns Bilanz fällt durchwachsen aus: „Salzgitter“ war als Institution einmalig, weil sie sowohl einen politisch-historischen als auch einen juristischen Auftrag hatte. Ohne sie wäre die Aufarbeitung des SED-Staates ungleich schwerer gewesen. Allerdings ist die Zahl der Verurteilungen – zum Beispiel von Grenzern, die tödliche Schüsse auf Flüchtlinge abgegeben hatten – gering geblieben.

Damit die Dokumentationen zum Zwecke der Strafverfolgung herangezogen werden konnten, entsandten noch 1990 einige jener Bundesländer, die ihre Zahlungen an die Erfassungsstelle zuvor eingestellt hatten, Staatsanwälte nach Salzgitter. War das eine Art Sühne? Zumindest Björn Engholm, damals schleswig-holsteinischer Ministerpräsident, räumt rückblickend ein: „Wären wir damals im Besitz aller heutigen Kenntnisse über die DDR gewesen, hätte die Entscheidung vielleicht anders ausfallen können.“ Engholm hatte wohl seine Erfahrung gemacht, mit dem Getäuschtwerden und dem Sichtäuschenlassen. Der Sozialdemokrat aus Kiel weilte Anfang 1989 zu einem offiziellen Besuch in Ost-Berlin. Als in einer Unterredung mit Erich Honecker die Situation an der innerdeutschen Grenze zur Sprache kam, soll dieser geäußert haben, dort sei es jetzt ruhig, sehr ruhig. Engholms Besuch endete am 3. Februar 1989. Zwei Tage später wurde der zwanzig Jahre alte Chris Gueffroy beim Versuch, über die Mauer von Ost- nach West-Berlin zu fliehen, von Grenzern erschossen.

Foto: Karteikasten und DDR-Unrecht: Erfassung der Namen von 10.000 Beschuldigten und 70.000 Opfern