© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Die kulturelle Wiege stand an der Donau
Von wegen Euphrat und Tigris: Der Kulturwissenschaftler Harald Haarmann und die Donauzivilisation
Lydia Conrad

In letzter Zeit gerät unser traditionelles Geschichtsbild, welches nicht zuletzt das Ergebnis vielfältiger Manipulationen seitens interessierter politischer Kreise und wissenschaftlicher Pfründeinhaber ist, zusehends ins Wanken. Das gilt auch und gerade für die Ur- und Frühgeschichte Europas.

Verantwortlich hierfür sind vor allem die Veränderungen in den ehemaligen Ostblockstaaten, die der dortigen Archäologie einen ungeahnten Aufschwung bescherten. Plötzlich nämlich erwies sich mit jeder Ausgrabung ein Stückchen mehr, daß es grundfalsch ist, unsere europäischen Altvorderen als kulturell inferiore Nachzügler hinzustellen, denen erst dann ein Lichtlein aufging, als dieses von außen an sie herangetragen wurde. Das heißt, die Bewohner Alteuropas waren keinesfalls unkreative Erbschleicher der Hochkulturen in Mesopotamien, Ägypten und Kleinasien – eine Tatsache, die insbesondere unter türkischen Historikern, aber auch deutschen Wissenschaftlern für Betroffenheit sorgt, die wiederholt betonen, wie sehr die europäische Kultur auf den „Errungenschaften“ Anatoliens basierten (JF 17/11).

Als besonders prägnantes Beispiel für die Innovationskraft Alteuropas kann die Donauzivilisation dienen, welche nun erstmals in einem Buch vorgestellt wird, das nicht für Fachkreise, sondern für die breitere Öffentlichkeit bestimmt ist. Diese Zivilisation, deren Blütezeit um 6.500 v. Chr. begann, prägte weite Bereiche zwischen Donau und Dnjepr, wobei sich folgende Kulturprovinzen herausbildeten: Vinča (im Gebiet des heutigen Serbien, Bosnien und Albanien), Karanovo (Bulgarien/Makedonien), Cucuteni (Rumänien), Trypillya (Südukraine), und Tisza bzw. Lengyel (Ungarn).

Selbige Regionen waren vor allem auf drei Gebieten führend: dem Städtebau, der Metallverarbeitung und der Schriftentwicklung. So wuchsen die ersten Großstädte in der Geschichte der Menschheit eben nicht in Mesopotamien heran, sondern auf dem Balkan und in der südlichen Ukraine. Und auch wenn Uruk, Ur und andere sumerische Metropolen dann später nachzogen – Majdanec’ke und Tallyanky mit ihren bis zu 10.000 Einwohnern blieben zwei- bis viermal größer! Ähnlich verhält es sich mit dem Schmelzen und Gießen von Kupfer: Diese neuen und wichtigen Techniken beherrschten die Menschen in Belovode und Rudna Glava, Siedlungen im Raum südlich des heutigen Belgrad, bereits um 5.500 v. Chr., also mehrere hundert Jahre vor den Völkern Anatoliens.

Und dann wäre da noch die Schrift, eine der wesentlichsten Erfindungen in der Geschichte der Menschheit überhaupt. Die Ursprünge der Donauschrift, welche ebenfalls im Herzen des Balkan geschaffen wurde, reichen bis in die Zeit um 5.800 v. Chr. zurück, weshalb es sich hier um das mit Abstand älteste Schriftsystem der Welt handelt. Deshalb kann man Harald Haarmann, einem der führenden Experten für frühe Schriften und die Donauzivilisation, auch nur zustimmen, wenn er konstatiert: „Die alten Schulweisheiten über Schrift haben ausgedient.“ Denn die Donauschrift entstand auf jeden Fall lange vor der sumerischen Keilschrift bzw. den ägyptischen Hieroglyphen; deren Aufkommen fiel nach heutigem Erkenntnisstand in die Zeit zwischen 3.300 und 3.150 v. Chr.

Ebenso obsolet ist das Dogma geworden, daß die ersten Schriftsysteme ausnahmslos deshalb entwickelt wurden, weil die wuchernde staatliche Bürokratie ein exaktes Notationsverfahren benötigte. Ein Staat als solcher hat an der Donau nämlich überhaupt nicht existiert, was bedeutet, daß die Schrift und all die anderen erwähnten Kulturleistungen zustande kamen, ohne daß es einer obersten lenkenden oder bevormundenden Autorität bedurfte. Vielleicht sollten wir heutigen Europäer uns hier mehr an unseren Vorfahren orientieren – so wie wir es auch auf sprachlichem Gebiet tun, indem wir ganz selbstverständlich zahlreiche Lehnwörter aus der Lingua franca der Donauzivilisation verwenden, als da beispielsweise wären: Aroma, Kirsche, Olive, Petersilie, Wein, Kamin, Keramik, Metall und Hymne.

Ein Irrtum unterlief allerdings auch Haarmann. Im Zuge seiner Darstellung der Geschichte der Erforschung der Donaukultur merkt er unter anderem an, heute müsse niemand mehr so leisetreterisch argumentieren wie Shan Winn, der 1981 eine erste kluge Dissertation über die Schriftzeichen der Vinča-Leute vorlegte und darin gewunden von „pre-wrinting“ statt von Schrift sprach, um nicht am Dogma vom Primat Mesopotamiens zu rütteln – schließlich seien die Zeiten, als man noch solche Rücksichten nehmen mußte, ein für allemal vorbei.

Nun, das mag auf gestandene Forscher zutreffen, welche zudem wie Haarmann das Privileg genießen, in Finnland statt in Deutschland zu arbeiten. Studenten in der Bundesrepublik hingegen können sich nach wie vor kräftig in die Nesseln setzen, wenn sie die Ex-Oriente-Lux-Lehre in Frage stellen; dafür gibt es im Hochschulbetrieb leider immer wieder konkrete Beispiele.

Harald Haarmann: Das Rätsel der Donauzivilisation. Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas. Verlag C.H.Beck, München 2011, gebunden, 286 Seiten, Abbildungen, 16,95 Euro