© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Die Wurzeln ökologischer Führungsmacht
Philipp Leopold Martin – Die Neuentdeckung eines Pioniers des deutschen Naturschutzes
Justin Bäcker

Die Suche nach dem ersten Auftauchen eines Begriffs ist keine Beschäftigungstherapie für Sprachhistoriker. Begriffe verdichten gesellschaftliche Erfahrungen, sie formen unsere Beziehung zur Wirklichkeit und leiten unser Handeln. Darum spiegelt die Begriffsgeschichte den Wandel menschlicher Versuche, sich in der Welt zu orientieren und dient damit als historische Selbstvergewisserung und politische Legitimationsressource.

Vor diesem Hintergrund ist es schon beachtlich, wenn die von Angela Merkel reklamierte globale ökologische Vorreiterrolle Deutschlands mit Hilfe einer sensationell aufgemachten Entdeckung offenbar historisch fundiert werden soll. Dem Bundesamt für Naturschutz (BfN) war es jedenfalls eine Pressemitteilung wert, daß der Begriff „Naturschutz“ früher im deutschen Sprachschatz zu finden ist als bislang angenommen.

Weitere Forschungen, für die nun „viel Raum“ eröffnet worden sei, so die BfN-Präsidentin Beate Jessel, könnten also die tiefe nationale Verwurzelung grünen Gedankenguts erweisen und zur Identitätsstiftung der neuen ökologischen Führungsmacht im Herzen Europas taugen. Anlaß für Jessels Vorstoß in die Öffentlichkeit war eine Studie im BfN-Hausorgan Natur und Landschaft.

Darin präsentieren die BfN-Bibliothekare Rainer Koch und Gerhard Hachmann, tätig in der ältesten und größten Fachbücherei für Naturschutzfragen, den Präparator Philipp Leopold Martin (1815–1886) als zu Unrecht vergessenen Pionier des Natur- und Artenschutzes. Martin, aus dem niederschlesischen Bunzlau stammend, war der Fachwelt nur als Tierpräparator am Zoologischen Museum Berlin und am Stuttgarter Naturalienkabinett sowie als Verfasser populärer naturkundlicher Werke bekannt.

Nur die hierzulande kaum rezipierte Untersuchung der Guggenheim-Fellowship Lynn K. Nyhart zur Geschichte des „Biologismus“ in Deutschland („Modern nature. The rise of the biological perspective in Germany“, Chicago 2009) reiht Martin neben dem spätromantischen Komponisten Ernst Rudorff (1840–1916) und dem Danziger Geologen Hugo Conwentz (1855–1922) unter die frühesten Umweltaktivisten ein.

Doch auch die Historikerin von der University of Wisconsin hat übersehen, daß Martin bereits knapp zehn Jahre vor Rudorffs programmatischem Aufsatz „Ueber das Verhältniß des modernen Lebens zur Natur“ (1880) den Begriff „Naturschutz“ erstmals gebrauchte und damit auch die Sache in imponierender Deutlichkeit erfaßt hatte: „die absolute Nothwendigkeit“ eines „internationalen“ Schutzes der im Zuge der ersten Globalisierung bedenkenlos ausgebeuteten und vernutzten Natur.

Dank „Google Books“ und des neuen Statistik-Werkzeugs Books Ngram Viewer, das die Wortsuche in 15 Millionen digitalisierter Bücher ermöglicht, konnten Koch und Hachmann die Anfänge der Naturschutzidee in die Gründungsära des Deutschen Reiches zurückverlegen, als Martins mehrteilige Aufsatzreihe über den „Thierschutz“ 1871/72 im Waidmann, einer Zeitschrift für Jäger und Jagdfreunde, erschien und der Autor darin das magische Wort Naturschutz erstmals in der heute geläufigen Bedeutung verwendete. Darin versammelt der konservativ-protestantisch geprägte, auf die Bewahrung der Schöpfung hin erzogene naturwissenschaftliche Autodidakt alle Forderungen eines modernen Ökologismus.

Im ersten Teil kritisierte Martin die Rücksichtslosigkeit des Landschaftsverbrauchs und die brutale „Ausnützung der Natur“, der Tiere ebenso zum Opfer fallen wie indigene Völker. In weiteren Folgen prangerte er die Walschlächterei, den trophäengierigen Jagdsport, den gnadenlosen Vogelfang in den Mittelmeerländern und die Waldvernichtung durch industriellen Holzeinschlag an. Zum Schluß unterbreitete Martin Vorschläge zur Abhilfe. Für unabdingbar hielt er die Zentralisierung und Internationalisierung staatlicher Schutzmaßnahmen, eine effiziente Gesetzgebung, die Ausweisung von Schutzarealen, die „Wiederherstellung des Naturhaushaltes“ und eine verbesserte „Volksaufklärung“ durch Schulunterricht, Naturkundemuseen und botanische wie zoologische Gärten.

Martins Überlegungen von 1871 sehen die BfN-Bibliothekare in einer Tradition, die es vielleicht erlaubt, das deutsche Naturschutzdenken noch weiter zurückzuverfolgen, da der Präparator selbst einige um den Vogelschutz besorgte Ornithologen als seine Vorläufer nannte. Koch und Hachmann betonen überdies, daß Martins „Thierschutz“-Aufsätze in seinem Werk nicht isoliert stehen. Seine Reflexionen zum „Allgemeinen Naturschutz“ von 1882 schließen vielmehr eine Reihe von Publikationen der 1870er Jahre ab, die beharrlich den Schutzgedanken propagieren. Und sie zeigen Martin als Wegbereiter der Ökologiebewegung, der seiner Zeit so weit voraus war, daß seine globale Sicht auf die Unterminierung der Grundlagen menschlicher Existenz bereits den Klimawandel antizipierte, wenn er mit Blick auf den Raubbau in US-Wäldern 1882 prophezeite, dort werde „Unverstand“ das Klima der nördlichen Halbkugel „gänzlich umwandeln, wenn nicht sofort dagegen eingeschritten wird“.

Die Entdeckung des Ökologen Martin ist auch eine prompte Antwort auf den jüngsten Versuch, den bundesrepublikanischen Naturschutz einmal mehr auf die 1933 einsetzenden „unheilvollen Kontinuitäten“ zu reduzieren. Konnte es sich doch Hildegard Eissing im Oktoberheft von Naturschutz und Landschaftsplanung nicht versagen, den Bogen vom Reichs- (1935) zum Bundesnaturschutzgesetz (1976) und sogar noch zu dessen Novellierung (2002) zu schlagen.

Dabei ignoriert sie nicht nur die im 19. Jahrhundert zu suchenden Ursprünge des NS-Gesetzes von 1935, sie hantiert auch mit den üblichen Denunziationen, denen zufolge der Schutzgedanke selbst nach 1945 von „völkischen“ und somit „antisemitischen“ Konnotationen nicht frei sei. Abgesehen davon, daß eine der radikalsten völkischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, der zionistische „Schollenpatriotismus“ (Walter Grab), kaum „antisemitisch“ zu nennen ist, könnte Eissing den ihr verdächtigen „ideellen Artenschutzansatz“, hinter dem sie ein „geodeterministisches Bild von Mensch und Gesellschaft“ vermutet, mühelos in den politisch korrekten ökologischen „Reißbrett-Visionen“ der EU wiederfinden, etwa in der einen „guten Umweltzustand“ anstrebenden Brüsseler „Meeresstrategie“ für 2020 (JF 46/11).

Der Beitrag „Die absolute Nothwendigkeit eines derartigen Naturschutzes“ über Philipp Leopold Martin findet sich in der Monatszeitschrift „Natur und Landschaft“ 11/11: www.natur-und-landschaft.de