© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/11 / 02. Dezember 2011

Deregulierung um jeden Preis
EU-Politik: Die Europäische Kommission startet erneuten Angriff auf das VW-Gesetz / Grundproblem Kapitalverkehrsfreiheit
Karl Albrecht Schachtschneider

Erneut hat die Europäische Kommission Deutschland wegen des VW-Gesetzes von 2008 verklagt. Denn mit einem Fünftel des Grundkapitals können Beschlüsse der Hauptversammlung verhindert werden, für die sonst ein Viertel erforderlich ist. Dies betrifft insbesondere Satzungsänderungen, Kapitalerhöhungen, Kapitalherabsetzungen, die Auflösung der Gesellschaft und Unternehmensverträge, also Beherrschungs- und Abführungsverträge. Niedersachsen hält 20,2 Prozent der VW-Anteile. Diese Sonderregelung besteht seit der Privatisierung von Volkswagen 1960.

Das VW-Gesetz wurde bereits novelliert, nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) das Recht Niedersachsens und des Bundes, je zwei Aufsichtsräte zu entsenden, und die Stimmrechtsbegrenzung von Aktionären auf 20 Prozent des Grundkapitals für europarechtswidrig erklärt hatte. Unangetastet ist bislang die Vorschrift, daß Standortverlagerungen der Produktionsstätten der Zustimmung des Aufsichtsrates mit Zweidrittelmehrheit bedürfen, wodurch die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat ein Vetorecht haben.

Der EuGH sieht „Goldene Aktien“ als Beeinträchtigungen der Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit, welche nicht durch zwingende Interessen des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden könnten. Goldene Aktien sichern in unterschiedlicher Weise den Einfluß der Standortstaaten auf ihre wichtigen Unternehmen. Der Rest des VW-Gesetzes erleichtert Niedersachsen die Verteidigung seines Interesses an VW über die Möglichkeiten des allgemeinen Aktienrechts hinaus und stärkt zugleich den Einfluß der VW-Belegschaft. Die Sperrminorität gilt zwar für alle Anteilseigner, aber andere haben typische Kapitalinteressen und nicht besondere Staats- und mittelbar Arbeitnehmerinteressen. Niedersachsen lebt weitgehend von Volkswagen. Wer VW beherrschen will, wird im Zweifel an der Landesregierung scheitern, wie der Übernahmeversuch durch Porsche zeigt. Das macht den Erwerb von VW-Aktien weniger attraktiv, meint nicht ganz zu Unrecht die Kommission, durchaus in Übereinstimmung mit der Judikatur des EuGH. Wer dessen Praxis zu den Goldenen Aktien kennt, mußte mit dem neuen Verfahren rechnen – und wird sich keinen Illusionen über dessen Ausgang hingeben.

Das eigentliche Problem ist aber die weltweite Kapitalverkehrsfreiheit, welche der EuGH extensiv zur „neoliberalen“ Deregulierung nutzt. Der entgrenzte Kapitalismus vermag sich dadurch gegen nationale Unternehmenspolitik durchzusetzen. Die von diesem Gericht, das keinerlei demokratische Glaubwürdigkeit hat, hart gehandhabten Grundfreiheiten des Binnenmarktes (für Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital) rangieren über der demokratisch legitimierten Politik der Nationalstaaten.

Es gibt gute Gründe, die Unternehmen vor existenzgefährdenden Entscheidungen internationaler Anteilseigner zu schützen. Das Grundkapital global agierender Unternehmen mögen, fragwürdig genug, internationale Anleger halten, aber die Unternehmen gehören auch und wesentlich den Bürgern, die sie aufgebaut haben, zumal bei VW. Das Volk nimmt sein „Eigentum“ hier als staatliche Hoheit wahr. Dem sollten sich zumindest die großen Unternehmen nicht entziehen können. So fragwürdig staatlich-private Mischunternehmen verfassungsrechtlich sind, das Volk muß in dieser oder anderer Weise die Hoheit über seine Unternehmen bewahren. Die globale Kapitalverkehrsfreiheit ist mit dem demokratischen und dem sozialen Prinzip unvereinbar. Sie liefert die Staaten den Finanzmächten aus, die das Gemeinwohl systemisch nicht verwirklichen können. Nicht nur der Euro ist – nicht nur, aber wesentlich – ein Vehikel der Finanzwelt und zugleich deren Opfer, sondern die ganze denationalisierte Unternehmenswelt. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums hat internationalistisch keine Chance. Darum verdienen die internationalen Anleger auch keinen grundrechtlichen Eigentumsschutz.

Die Niederlassungsfreiheit mag in Grenzen tragfähig sein, wenn die Unternehmen sich in die Ordnung des Aufnahmelandes einzufügen haben. Der EuGH will alle nationalen Besonderheiten einebnen. Speziell die Praxis der Grundfreiheiten, durch Vertragsbruch des EuGH 1963 eingeleitet, ruiniert die Strukturprinzipien der nationalen Verfassungen. Das Bundesverfassungsgericht will davon nichts wissen. Wenn das Recht noch den Primat hätte, käme der EuGH-Prozeß gegen das deutsche Unternehmensrecht gar nicht in Frage.

 

Prof. Dr. Karl A. Schachtschneider lehrte öffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg. Sein jüngstes Buch über „Die Rechtswidrigkeit der Euro-Rettungspolitik“ erschien im September im Kopp-Verlag.

Foto: VW-Werk Wolfsburg: Wer VW beherrschen will, wird bislang an der Landesregierung in Hannover scheitern

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