© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/11 / 02. Dezember 2011

Das Ende im Osten
Vor siebzig Jahren beendete die Offensive der Roten Armee bei Moskau den Blitzkrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion
Guntram Schulze-Wegener

Günstiger für die Gegenseite sind augenblicklich die Nachrichten von der Ostfront. Die Bolschewisten triumphieren über ihre Siege, die in Wirklichkeit keine Siege sind, sondern nur ein Nachstoßen in leere Räume.“ Was der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, am 20. Dezember 1941 seinem Tagebuch anvertraute, war eine die desaströse Lage an der Ostfront beschönigende Reaktion auf ein Ereignis, dem sich in kurzer Folge zwei weitere anschließen sollten, die zusammen genommen die Wende des Krieges markierten.

Als die Rote Armee am 5. Dezember 1941 vor Moskau zur Offensive überging und den deutschen Vormarsch dadurch jäh stoppte – deutsche Panzer, genauer ein Erkundungstrupp des Panzerpionierbataillons 62, standen bereits im nordöstlichen Vorort Chimki der sowjetischen Metropole –, war Hitlers Strategie gescheitert, in einer Reihe kurz aufeinanderfolgender militärischer Schläge die für den Kampf um die Vormachtstellung in der Welt notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Trotz der bereits viele Wochen zuvor in Marsch gesetzten Verstärkungen sibirischer Eliteeinheiten schien Stalin nicht fest davon überzeugt gewesen zu sein, seine Hauptstadt zu halten. Im Laufe des November wurden fast zwei Millionen Moskauer evakuiert. Die Kunstschätze aus dem Kreml und namhafter Museen, selbst der einbalsamierte Leichnam Lenins, wurden nach Osten in Sicherheit geschafft. Bereits Ende Oktober hatten sich wichtige Ministerien, das diplomatische Korps und das Politbüro nach Kuibyschew (heute Samara) an der Wolga zurückgezogen.

Das Ende des „improvisierten“ Kriegsplanes – von einer Generalplanung konnte nie die Rede sein – bedeutete zugleich die Aufkündigung der Konzeption, ein Großdeutsches Reich als blockadefestes, räumlich geschlossenes, autarkes kontinentaleuropäisches Imperium zu schaffen, das nach der Niederringung der Sowjetunion wehrwirtschaftlich, machtpolitisch und militärisch in der Lage sein sollte, einen dauerhaften Krieg gegen die angelsächsischen Mächte führen zu können.

In einer nach dem Ende des „Unternehmens Barbarossa“ (Deckbezeichnung für den Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941) folgenden zweiten Etappe waren Operationen gegen den Vorderen Orient, Vorstöße bis nach Afghanistan und Nordwestafrika sowie die Besetzung der Azoren vorgesehen, um durch die Gewinnung von Stützpunkten Großbritannien endgültig zum Frieden zu zwingen und den USA die Zusicherung ihrer Neutralität abzuringen.

Die strategische Lage änderte sich mit dem Mißerfolg der Wehrmacht im Osten dabei nicht grundsätzlich, denn das vor Beginn der Operation gesteckte Ziel – die Linie Wologda–Gorki–Kaukasus – wurde lediglich in das Jahr 1942 projiziert. Dennoch war die günstige Ausgangssituation des Anfang Oktober beginnenden Feldzugs der Wehrmacht gegen Moskau, bei dem die Rote Armee bei Brjansk und Wjasma wiederum ungeheure Verluste erlitt – das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) meldete die Vernichtung von 80 Divisionen mit über 600.000 Gefangenen und der Vernichtung von 1.200 Panzern und über 5.000 Geschützen – schnell dahin. Besonders die „Schlammperiode“ brachte den Vormarsch zum Erliegen, so daß die rasch vorstoßenden Truppen ohne ausreichende Versorgung agieren mußten. Als dann ab Mitte November auch noch eine ungewöhnliche Kälte mit Temperaturen von minus 35 bis 40 Grad hereinbrach, zerbrach der letzte Angriffselan der erschöpften und völlig unzureichend für den Winterkampf vorbereiteten Truppe.

Der sowjetischen Offensive hatten die unter eigenen hohen Verlusten leidenden Wehrmachtsdivisionen – allein im November 1941 fielen bei der Heeregruppe Mitte 140.000 Mann! – dann nur noch wenig entgegenzusetzen. Die Front brach teilweise völlig ein und konnte bis Mitte Januar erst Hunderte Kilometer westlich halbwegs stabilisiert werden. Die deutsche Führung gelangte nun zu der Erkenntnis, daß der Krieg nunmehr anders verlaufen würde. Zeitlich verschoben – bekanntlich war man von einem kurzen Rußlandfeldzug ausgegangen – ist der Schicksalskampf gegen die Sowjetunion zur vordringlichen Aufgabe für 1942 erklärt worden.

Am 4. Dezember 1941, also noch vor der sowjetischen Gegenoffensive, stand Hitlers Entschluß zum Kampf gegen die Vereinigten Staaten von Amerika fest. Obwohl nach dem „Dreimächtepakt“ ein deutsches Eingreifen an der Seite Japans nur für den Fall eines amerikanischen Angriffs verbindlich und Deutschland somit formal nicht zum Kriegseintritt verpflichtet war, erklärte Hitler in seiner Rede vor dem Reichstag am 11. Dezember den USA als „Feind Nummer 4 von Weltrang“ den Krieg. Damit erst weitete sich der bis dahin europäische Krieg zum Weltkrieg aus.

Durch den japanischen Angriff auf den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbor am 7. Dezember sah der „Führer“ Amerika in einem langfristigen Krieg im Pazifik gebunden und folgerte in völliger Verkennung des gewaltigen US-Rüstungspotentials, daß die Amerikaner – und somit auch ihre Verbündeten Großbritannien und Sowjetunion – für eine wirkungsvolle Atlantik-Europa-Kriegführung dauerhaft geschwächt seien.

Außer jener zur Bekämpfung von US-Hilfskonvois fehlte indessen jegliche Planung, wie die Auseinandersetzung mit dem neuen Gegner praktisch zu führen sei, und Hitler gestand in einem Gespräch mit dem japanischen Botschafter Oshima freimütig ein, nicht zu wissen, wie man die USA eigentlich besiegen solle. Da es dem OKW an einer Alternative mangelte, erfolgte nach der Änderung der gesamtstrategischen Lage keine militärische Neukonzeption.

Der „Kriegsplan“ basierte nach wie vor auf dem Überraschungsprinzip gegen ungleiche militärische Kräfteverhältnisse (die Bezeichnung „Blitzkrieg“ hatte die Propaganda nach dem Sieg über Frankreich eingeführt). Es blieb nur der schnellstmögliche Sieg im Osten, dessen operative Stabilisierung sich infolge krampfhaften Verharrens in überkommenen Strukturen („fanatischer Widerstand“) allerdings immer problematischer gestaltete.

Hitler reagierte auf die sich überschlagenden Ereignisse vom Dezember 1941 in der ihm eigenen Art, andere für das vermeintliche Versagen der Fronttruppen bzw. ihrer Befehlshaber verantwortlich zu machen. Ein Wesenszug, der zwar nicht neu war, in dieser Intensität aber in eine Richtung wies, die zu einem bestimmenden Führungsmerkmal der zweiten Kriegshälfte wurde, nämlich keine neben seiner eigenen fachmilitärischen Meinung wirklich zu dulden. So bestätigte der „Haltebefehl“ vom 16. Dezember 1941 eine tiefgreifende Vertrauenskrise im OKW, in deren Folge Hitler völlig überhastete Personalentscheidungen traf.

Einen Tag zuvor war bereits der Oberbefehlshaber (OB) der Heeresgruppe Nord (HG), Generalfeldmarschall Ritter von Leeb, durch den bisherigen OB der 18. Armee, Generaloberst von Küchler, ersetzt worden. Am 18. Dezember löste der OB der 4. Armee, Generalfeldmarschall von Kluge, den OB der HG Mitte, Generalfeldmarschall von Bock, ab. Mit der Übernahme des Oberbefehls über das Heer am 19. Dezember schließlich vereinigte Hitler fortan die Führung von Wehrmacht und Heer in einer Hand.

Goebbels notierte zuversichtlich: „Ich bin davon überzeugt, daß er (Hitler) mit seiner gewohnten Energie und mit der Fähigkeit, im entscheidenden Augenblick brutal durchzugreifen, dem Heer wieder eine feste klare Spitze gibt.“ Mit „brutalem Durchgreifen“ allerdings war es nicht getan, wie die folgenden Wochen, Monate und Jahre zeigen sollten. Wie das konkret innerhalb der Wehrmachtsführung aussehen sollte, dokumentierte der Fall der Generalsobersten Erich Hoepner, der später zu einer wichtigen Figur im Widerstandskreis des 20. Juli 1944 gegen Hitler werden sollte. Als der kommandierende General eines Armeekorps Anfang Januar seine Truppen zurücknahm, um sie der drohenden Einkesselung durch die offensive Rote Armee zu entziehen und damit gegen Hitlers „Haltebefehl“ verstieß, statuierte der neue Oberbefehlshaber ein Exempel an Hoepner. Er enthob ihn seines Kommandos und stieß ihn wegen „Feigheit und Ungehorsam“ unehrenhaft aus der Wehrmacht aus. Von diesem Tag an mußte jeder Rückzugsbefehl bis Kriegsende persönlich von Hitler genehmigt werden.

Die Wehrmachtführung hatte sehr wohl erkannt, daß das Deutsche Reich unabhängig vom Ausgang der Kämpfe an der Ostfront die Initiative auf dem Kontinent bei einer eurozentrischen Kriegführung der Angloamerikaner langfristig verlieren würde. Die OKW-Denkschrift vom 14. Dezember 1941 brachte es auf den Punkt: „Während Deutschland in der Hauptsache mit der Weiterführung des Ostfeldzuges belastet ist, erlaubt den Feindmächten der Rüstungsstand der USA (…) vorbereitende Schritte.“

Die beiden entscheidenden militärischen Dezember-Ereignisse – sowjetische Großoffensive und Kriegseintritt der USA – trafen die in einen allzu gewohnten Blitzkrieg-Rhythmus verfallene deutsche Führung unerwartet und mit einer Wucht, auf die Hitler nur mit einer selbstgerechten Kompetenzerweiterung seiner eigenen Person und Ablösung hochkarätiger Generale zu reagieren vermochte – statt eine grundlegende strategische Neuausrichtung der Kriegführung zu forcieren, die der geänderten Gesamtlage Rechnung trug.

Die Zäsur des Zweiten Weltkrieges war vollzogen, noch ehe dieser eigentlich begonnen hatte, worüber in der Forschung in seltener Eintracht Konsens besteht. Die Katastrophe von Stalingrad Anfang 1943 besaß, auch darin sind sich die Historiker einig, nur noch symbolische Bedeutung.

 

Dr. Guntram Schulze-Wegener ist Chefredakteur von „Militär & Geschichte“. www.militaerundgeschichte.de 

Foto: Deutsche Soldaten im Angriff auf Moskau, November 1941: Endgültiges Scheitern eines improvisierten Kriegsplanes der Wehrmachtsführung

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