© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/11 / 02. Dezember 2011

Krank, aber schuldfähig
Untersuchungen über Hitlers Krankenakte
Lydia Conrad

Die Frage, ob Hitler körperlich oder psychisch krank war, erregt schon seit Jahrzehnten die Gemüter von medizinischen Experten und Fach- bzw. Amateurhistorikern. Dabei wurde die Liste seiner Gebrechen und Störungen von Jahr zu Jahr länger und beinhaltet folgende bemerkenswerte „Diagnosen“: Erbkrankheiten infolge familiärer Inzucht, Hysterie, Bazillenangst, Syphilis, ein fehlender Hoden (natürlich der linke) oder gar ein von einem Ziegenbock abgebissener „Zippedäus“, Psychosen infolge verdrängter Homosexualität und/oder Impotenz, Nervenparalyse, Kokainsucht und so weiter und so fort.

Vieles hiervon ist das Ergebnis vorsätzlicher Falschaussagen von Zeitzeugen oder plumper feindlicher Propagandalügen und verdient deshalb keinerlei ernsthafte Beachtung. Andererseits zeigte Hitler auch objektiv vorhandene Krankheitssymptome. Deshalb zeugt es wohl eher von politischer Anpassungsfähigkeit als von medizinischer Urteilskraft, wenn man die Frage „War Hitler krank?“ folgendermaßen beantwortet: „Der Führer der NSDAP, der Kanzler des Deutschen Reichs und Oberste Befehlshaber der Deutschen Wehrmacht war gesund und voll schuldfähig.“

Doch genau so lautet der entscheidende letzte Satz des „abschließenden Befundes“ von Hans-Joachim Neumann und Henrik Eberle. Dabei hat das Autorenduo selbst nur sechs Seiten zuvor konzediert, daß Hitler unter einem „Reizdarm-Syndrom“ litt, „das eine Abhängigkeit von seiner psychischen Verfassung erkennen ließ“. Ebenso diagnostizierten Neumann und Eberle „eine Parkinsonsche Krankheit, deren Anfänge in das Jahr 1941 fielen“, zudem habe Hitler „ohne Zweifel an einer Bluthochdruckkrankheit und einer sich verschlimmernden Koronarsklerose“ laboriert.

Genau deshalb konsumierte der Diktator sage und schreibe 82 verschiedene Medikamente, wie die Autoren mit einem 40seitigen „Blick in Hitlers Apotheke“ dokumentieren – beginnend mit Antigas-Pillen gegen allgegenwärtige Blähungen und endend mit Vitamultin-Täfelchen, welche das scharfe Aufputschmittel Pervitin enthielten, das man heute als „Speed“ kennt. Somit hört sich ihr Fazit doch seltsam fragwürdig an.

Hans-Joachim Neumann & Henrik Eberle: War Hitler krank? Ein abschließender Befund. Bastei Lübbe Verlag, Köln 2011, broschiert, 317 Seiten, Abbildungen, 8,99 Euro

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