© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/11 / 02. Dezember 2011

Der Flaneur
Flüchtige Momente
Josef Gottfried

Irgendwo im Wald, zwischen Podemus, Ockerwitz und Zschoner Mühle. Leider bin ich nicht der einzige, der – einem Entdecker gleich – Waldwege entlangstreift. Da ist noch diese Gruppe von älteren Herrschaften mit digitalen Spiegelreflexkameras. Ein jüngerer Mensch gibt ihnen Anweisungen, die spät berufenen Fotoschüler folgen und erledigen die Übungen. Der Ablauf ist jedesmal der gleiche: Lehrer: „Blabla“, Schüler: „Knipsknips“, alle gehen mit Geplauder weiter. Dann wieder von vorne.

An einem besonders schönen Baum, vor Jahren wohl vom Blitz getroffen, trotzdem noch Blätter tragend, bleibt eine der alten Damen stehen. Sie hat eine neue digitale Spiegelreflexkamera mit Standardobjektiv.

Während die anderen schon weitergehen, scheint sie von dem Baum fasziniert zu sein, so als ob ihre Welt noch nicht entzaubert wäre, so als ob sie etwas Mystisches dort entdeckt hätte, einen Gottesbeweis vielleicht, oder einfach nur die Kraft des Lebens. Sie beeilt sich, knipst den Baum schnell von mehreren Seiten – digital kostet’s ja nicht mehr – und eilt ihrer Gruppe dann hinterher.

Was wird mit den hastig angefertigten Bildern dieses zauberhaften Momentes wohl passieren? Ihr ist’s sicher nicht gelungen, den Zauber festzuhalten. Sie wird das schönste Bild heraussuchen, damit es irgendwann mal über dem Nachttisch ihres Zimmers hängen kann.

In wenigen Jahren, wenn sie dann tot ist, wird ihre Wohnung aufgelöst, die Festplatte gelöscht und ihre Bilder landen auf dem Müll – bestenfalls noch als Überraschung in einem ihrer Bücher, die von einem professionellen Trödler auf dem Flohmarkt verscherbelt werden. Für einen Euro das Buch, fünf Bücher vier Euro. Ich schreibe mir die Gedanken dieses zauberhaften Moments flugs in mein Notizbuch und gerate schwer ins Grübeln: Wo ist der Unterschied?

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