© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/11 / 16. Dezember 2011

Günstige Sozialprognose
Kriminalität: Hamburger „20-Cent-Mörder“ bleibt in Freiheit
Sverre Schacht

Onur K. (19), bekannt als einer der beiden Hamburger „20-Cent-Mörder“, muß nicht in Haft, sondern ein Sozialtraining absolvieren. Diese Entscheidung der Jugendkammer des Hamburger Landgerichts, die zudem eine Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verhängte, sorgt über die Grenzen der Hansestadt hinaus für Aufregung.

Juni 2009: Onur K. und Berhan I. betteln den Dachdecker Thomas M. (44) vor einem S-Bahnhof um Geld an. Als er ihnen nichts geben will, schlagen sie zu. Die damals 16- und 17jährigen traktieren den Handwerker derart mit Schlägen, daß er mit voller Wucht mit dem Hinterkopf auf den Bordstein prallt. Berhan tritt auch noch auf den am Boden Liegenden ein, der einen Schädelbruch erleidet. M. fällt ins Koma und stirbt Wochen später an seinen Verletzungen. Nach der Tat geben die beiden Täter an, sie hätten zugeschlagen, da Thomas M. ihnen nicht wie von ihnen gefordert 20 Cent gegeben habe.

Die folgende rechtliche Aufarbeitung ist von Justizpannen gekennzeichnet: Eine beisitzende Richterin schafft es im anberaumten Prozeß nicht rechtzeitig mit dem Urlaubsflieger nach Hamburg. Der neue Termin wird dann zu spät angesetzt, weil eine andere Richterin ihren Urlaub nicht verschieben will. Das zuständige Gericht berücksichtigte die Fristen nicht, die gesetzliche Höchstdauer von sechs Monaten für die Untersuchungshaft war erreicht. Der Beschuldigte war daher aus rein formalrechtlichen Gründen freizulassen. Schon im Dezember war Berhan I. dank dieser Pannen daher wieder in Freiheit. Zu der Zeit hätte der junge Mann eigentlich im Gefängnis sitzen sollen. Und der junge Mann wurde wieder gewalttätig: Einer Freundin fügte er auf dem Schulhof der von beiden besuchten Berufsschule schwere Verletzungen zu. Die 18jährige hatte sich geweigert, für Berhan I. auf den Strich zu gehen.

Am 2. Dezember 2010 spricht das Landgericht schließlich die Urteile: Onur K. wird wegen des Angriffs auf Thomas M. zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt, Berhan I. zu drei Jahren und zehn Monaten Jugendstrafe. Während Berhan I. sein Urteil akzeptierte, kassierte der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe im September den Richterspruch im Fall gegen Onur K. mit der Begründung, die Richter des Landgerichts hätten die erzieherische Notwendigkeit für eine Jugendstrafe in dieser Länge nicht ausreichend begründet. Darum waren die Hamburger Richter nun erneut gefordert. Laut BGH galt es zu zeigen, daß die „schwerwiegende Tat wirklich Ausdruck besonderer krimineller Energie ist“. Das neue Urteil wertet die Tat und den Tod des Dachdeckers nun als „eher ungewöhnlichen Kausalzusammenhang“.

Die öffentliche Diskussion ist hingegen längst über das Maß von Unverständnis hinaus zu Empörung und schlichtem Sarkasmus übergegangen. Im Internet macht das Wort „Freie Messerstecherstadt Hamburg“ in Anlehnung an andere Fälle von Jugendgewalt die Runde. Das Gericht rechnet nämlich den geplanten Besuch einer Abendschule dem türkischstämmigen Onur K. als mildernden Umstand an. Die Staatsanwaltschaft hatte dagegen zwei Jahre und acht Monate Haft gefordert. Diese hätte nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden können.

In den Medien gehen derartige Forderungen nach einem angemessenen Urteil weitgehend unter. Während die Boulevardmedien vordergründig die Welle öffentlicher Empörung abbilden, bleibt eine Diskussion um die Schwächen des Jugendstrafrechts aus. Dagegen rechtfertigt der Kriminologe Bernd-Rüdeger Sonnen, der bis 2010 Vorsitzender der Vereinigung für Jugendgerichte war, die Abmilderung des Urteils im Hamburger Abendblatt: Das Urteil „ist nicht niedrig“. Erziehung statt Strafe sei das Ziel und „eine Haftstrafe ist nur die allerletzte Möglichkeit, wenn gar nichts mehr läuft“.

Auch die Politik hält sich vornehm zurück und verweigert sich einer Diskussion über angemessene Antworten auf Jugendgewalt. Gleichzeitig wird die Empörung in den sozialen Netzwerken im Internet ausgebremst. So wurde die Facebook-Gruppe „Bürger gegen Gewalt in Harburg“, die als Reaktion auf den Tod von Thomas M. entstanden war, gelöscht. Angeblich hatte es dort „rechte Einträge“ gegeben. Onur K. kann indes von solcher Empörung unbehelligt seinem sozialen Training entgegensehen. Und auch Berhans Sozialprognose fällt günstig aus: Sein Traumberuf ist nach Auskunft von Weggefährten auf der Berufsschule Erzieher.

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